Der Dschungel
Unterkunft, um von einem Tag zum andern zu kommen. Euch bringe ich meine Heilsbotschaft, an euch ist sie gerichtet. Ich weiß, wieviel ich damit von euch verlange – ich weiß es, denn ich bin selber in eurer Lage gewesen, habe euer Leben gelebt, und niemand hier im Saal kennt es besser als ich. Ich weiß, was es heißt, erwerbs- und obdachlos zu sein, von Brotkrumen zu leben, in Kellereingängen und unter Fuhrwerken nächtigen zu müssen. Ich habe erfahren, was es heißt, zu hoffen und zu streben, kühne Träume zu hegen und sie dann dahinschwinden sehen zu müssen – all die schönen Blüten meines Geistes von den tierischen Mächten des Lebens in den Kot getreten. Ich kenne den Preis, den ein Arbeiter für Wissen zahlen muß – habe selber zahlen müssen mit Nahrung und Schlaf, mit körperlichen und seelischen Leiden, mit meiner Gesundheit, ja fast mit meinem Leben. Und wenn ich vor euch hintrete und euch von Hoffnung und Freiheit erzähle, von der Vision einer zu schaffenden besseren Welt, einer neuen Anstrengung, die es einzugehen gilt, dann verwundert es mich nicht, euch eigennützig und materiell eingestellt zu finden, träge und ungläubig. Ebensowenig verzweifle ich darüber, denn ich weiß auch um die Kräfte, die euch treiben, kenne die wütende Geißel der Armut, den Stachel der Verachtung und des Herrentums, die Überheblichkeit und Unverschämtheit der Behörden. Ich bin überzeugt, daß unter denen, die sich heute abend hier versammelt haben – egal, wie viele sich davon langweilen oder gar nicht richtig zuhören, egal, wie viele aus bloßer Neugier oder Spottlust gekommen sind –, doch der eine oder andere ist, den Schmerz und Leid mit dem Mut der Verzweiflung erfüllt haben, den ein zufälliger Einblick in das Unrecht und die Ungeheuerlichkeiten aufgerüttelt hat. Und für ihn werden meine Worte sein wie ein erleuchtender Blitz für jemanden, der im Dunkeln umherirrt; sie werden ihm den Weg weisen, der vor ihm liegt, mitsamt allen Gefahren und Hindernissen, werden all seine Probleme lösen, all seine Schwierigkeiten klären. Wie Schuppen wird es ihm von den Augen fallen, die Fesseln um seine Glieder werden reißen – er wird aufspringen mit einem Dankesschrei und endlich als freier Mensch davonschreiten. Als ein Mensch, der befreit ist aus selbstgeschaffener Sklaverei. Als ein Mensch, der nicht mehr in die Falle tappt, sich nie wieder durch Schmeicheleien betören läßt, sich nie wieder vor Drohungen fürchtet, als ein Mensch, dessen Weg von heute an nicht mehr rückwärts, sondern vorwärts führt, der lernen und begreifen, der sein Schwert gürten und sich in das Heer seiner Brüder und Genossen einreihen wird. Der die frohe Botschaft anderen bringt, so wie ich sie ihm gebracht habe: das unschätzbare Geschenk der Freiheit und des Lichts, das weder ihm noch mir gehört, sondern das geistige Erbe aller Menschen ist. Arbeiter, Arbeiter – Genossen! Öffnet eure Augen und schaut euch um! Ihr lebt schon so lange unter Mühsal und Druck, daß eure Sinne stumpf geworden, eure Seelen erstarrt sind, aber erkennt doch einmal im Leben die Welt, in der ihr lebt, reißt ihr die Fummel aus Konvention und Tradition herunter – seht sie so, wie sie ist, in ihrer häßlichen Nacktheit! Vergegenwärtigt euch, daß sich heute abend auf den endlosen Weiten der Mandschurei zwei feindliche Armeen gegenüberstehen – daß jetzt vielleicht, während ihr hier sitzt, eine Million verhetzte Menschen einander an die Kehle gehen und sich wie Tobsüchtige gegenseitig in Stücke zu reißen suchen! Und das im zwanzigsten Jahrhundert, eintausendneunhundert Jahre nach des Friedensfürsten Geburt auf Erden! Seit eintausendneunhundert Jahren werden seine Worte als göttlich verkündet, und dennoch stürzen hier zwei Heere von Menschen aufeinander los und zerfleischen sich wie die wilden Tiere im Dschungel! Philosophen haben an die Vernunft appelliert, Propheten haben gewarnt und ermahnt, Dichter haben geweint und gefleht – und doch herrscht noch immer kein Friede auf Erden! Wir besitzen Schulen und Universitäten, Zeitungen und Bücher, wir haben den Himmel und die Erde erforscht, wir haben erwogen, argumentiert und experimentiert – alles nur, um die Menschen dafür auszurüsten, daß sie sich gegenseitig vernichten! Wir nennen das Krieg und finden uns damit ab. Doch kommt mir nicht mit Gemeinplätzen, wie etwa, daß das eben schon immer so gewesen sei, sondern folgt meinen Gedankengängen – erkennt das alles! Seht
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