Der Dschungel
die Gefallenen, die von Kugeln durchbohrt, von berstenden Granaten zerfetzt sind! Hört das Knirschen des Bajonetts, das sich in menschliches Fleisch bohrt, hört das Stöhnen, hört die Todesschreie, seht die Gesichter von Männern, die vor Schmerzen wahnsinnig geworden sind, die Wut und Haß haben zu Teufeln werden lassen! Legt eure Hand auf dieses Stück Fleisch – es ist warm und zuckt. Eben war es noch Teil eines Menschen. Dieses Blut dampft noch – ein menschliches Herz hat es durch Adern gepumpt! Allmächtiger Gott! Und das geht immer so weiter – systematisch, organisiert, vorbedacht! Wir hören oder lesen davon und nehmen es als selbstverständlich hin; unsere Zeitungen berichten darüber, und wir halten die Druckerpressen nicht an; unsere Kirchen wissen es und schließen nicht ihre Portale; das Volk sieht zu und erhebt sich nicht vor Entsetzen und Empörung!
Aber vielleicht ist euch die Mandschurei zu weit weg – dann kommt mit mir in unser eigenes Land, hierher nach Chicago. In dieser Stadt sind heute abend zehntausend Frauen in Lasterhöhlen eingesperrt, und der Hunger treibt sie dazu, ihren Körper zu verkaufen. Und wir wissen es und machen noch Witze darüber! Diese Frauen sind das Ebenbild eurer Mütter, könnten eure Töchter sein. Das kleine Mädchen, das ihr heute abend daheim gelassen habt, dessen lachende Augen euch morgen früh begrüßen werden – vielleicht hat es dieses Schicksal zu erwarten! In Chicago sind heute abend zehntausend Männer ohne Obdach und in Not; sie sind arbeitswillig und betteln um eine Stelle, doch sie müssen hungern und haben die Schrecken der Winterkälte vor sich! In Chicago reiben heute abend zehntausend Kinder ihre Kräfte auf und richten sich fürs Leben zugrunde bei dem Versuch, sich ihr Brot zu verdienen. Hunderttausend Mütter leben hier in dürftigsten Verhältnissen und quälen sich ab, um so viel zu verdienen, daß sie ihre Kleinen satt kriegen! Hunderttausend alte Leute warten hier ausgestoßen und hilflos auf den Tod, daß er sie von ihren Qualen erlöse! Eine halbe Million Menschen leben hier, Männer, Frauen und Kinder, die unter dem Fluch der Lohnsklaverei leiden, die sich abschuften, solange sie sich auf den Beinen halten und aus den Augen sehen können, für einen Lohn, mit dem sich das Leben gerade fristen läßt – die bis ans Ende ihrer Tage verurteilt sind zu Eintönigkeit und Stumpfsinn, zu Hunger und Elend, zu Hitze und Kälte, zu Schmutz und Krankheit, zu Unwissenheit, Trunksucht und Laster! Und nun laßt uns das Bild einmal umdrehen und von der anderen Seite betrachten. Da gibt es eintausend Leute, vielleicht auch zehntausend, die die Herren über diese Sklaven sind und denen die Arbeit dieser Sklaven gehört. Sie leisten nichts für das, was sie bekommen, ja sie brauchen es nicht einmal zu fordern – es fließt ihnen von selbst zu. Ihre einzige Sorge ist, wie sie es durchbringen können. Sie wohnen in Palästen, schwelgen in Luxus, treiben eine Verschwendung, die sich in Worten gar nicht beschreiben läßt, die jede Vorstellungskraft übersteigt und das Herz bluten macht. Sie geben Hunderte von Dollars für ein Paar Schuhe aus, für ein Taschentuch, ein Strumpfband; sie geben Millionen für Pferde, Automobile und Jachten aus, für Villen und Festgelage, für kleine Glitzersteine, mit denen sie sich behängen. Ihr Leben ist ein Wettstreit, wer den anderen an Gepränge und unbekümmertem Wohlleben übertrifft, wer nützliche und notwendige Dinge besser vernichten, wer Arbeitskraft und Leben seiner Mitmenschen besser vergeuden, wer mit der Mühsal und Qual der Völker, mit dem Schweiß, den Tränen und dem Blut der Menschheit am besten Schindluder treiben kann! Alles gehört ihnen – es strömt ihnen zu. So wie die Quellen in Bäche münden, die Bäche in Flüsse und die Flüsse ins Meer, genauso strömt ihnen automatisch und unaufhaltsam aller Reichtum der Gesellschaft zu. Der Bauer bestellt das Land, der Bergmann durchgräbt die Erde, der Steinmetz behaut den Stein, der Weber bedient den Webstuhl, der Tüftler macht Erfindungen, der Umsichtige organisiert, der Geistige studiert, der Beseelte dichtet – doch all die Früchte der Arbeit von Hand und Hirn sammeln sich in einem einzigen riesigen Strom und fließen diesen Wenigen in den Schoß! Die haben die gesamte Gesellschaft in ihrer Gewalt, die Schaffenden der ganzen Welt sind ihnen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert – und wie blutrünstige Wölfe reißen und zerfleischen sie, wie
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