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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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draußen warteten Hunderte, die darum bettelten, es an seiner Stelle versuchen zu dürfen.
    Jurgis aber machte das nichts, im Gegenteil, es behagte ihm sogar. Hier brauchte er nicht wie bei seinen meisten bisherigen Arbeiten vor Ungeduld mit den Armen zu schlenkern und von einem Bein auf das andere zu treten. Er lachte vor sich hin, wenn er die Reihe entlangrannte und dann und wann einen Blick auf den Mann vor ihm warf. Freilich, es war nicht gerade die angenehmste Arbeit, doch sie war notwendig, und was konnte man mehr verlangen, als die Möglichkeit, etwas Nützliches zu tun und dafür gut bezahlt zu werden?
    So dachte Jurgis, und in seiner unbefangenen, offenen Art gab er diese Gedanken auch von sich. Zu seiner großen Verwunderung eckte er damit aber fast immer nur an, denn nahezu alle Leute hier hatten da erschreckend andere Ansichten. Er war nicht wenig konsterniert, als er merkte, daß die meisten ihre Arbeit regelrecht haßten. Es mutete befremdend, ja furchtbar an, eine solche Einstellung so verbreitet vorzufinden, doch es war Tatsache: Sie haßten ihre Arbeit. Sie haßten ihre Vorgesetzten, von den Vorarbeitern bis hinauf zu den Fabrikbesitzern, sie haßten den ganzen Betrieb, ganz Packingtown und ganz Chicago – mit einem allumfassenden, bitteren und glühenden Haß. Selbst Frauen und kleine Kinder fluchten mit, wie mies und fies, wie verdammt verrucht alles hier sei. Fragte Jurgis, was sie denn meinten, wurden sie argwöhnisch und sagten lediglich: »Ach, nichts Spezielles. Sei erst mal länger hier, dann siehst du’s schon selber.«
    Eine der ersten Unverständlichkeiten, die ihm begegneten, war die Sache mit den Gewerkschaften. Er wußte da gar nichts drüber und mußte sich erst erklären lassen, daß sich die Arbeiter zusammenschließen, um für ihre Rechte zu kämpfen. »Was denn für Rechte?« fragte Jurgis, und meinte das ganz ernst, denn ihm war nie eingekommen, daß er irgendwelche Rechte haben könne, außer jenem, sich Arbeit zu suchen und dann zu tun, was man ihm auftrug. Bei soviel Naivität riß seinen Kollegen meist der Geduldsfaden, und sie nannten Jurgis einen Dummkopf. Eines Tages sprach ihn ein Funktionär der Schlachtarbeiter-Gewerkschaft an, ob er nicht bei ihnen eintreten wolle, und als Jurgis vernahm, daß er dann etwas von seinem Verdienst abführen müsse, lehnte er mit schroffen Worten ab. Das erboste den Gewerkschaftler, der Ire war und nur ein paar Brocken Litauisch konnte, und er begann, ihm zu drohen. Schließlich brauste auch Jurgis ganz schön auf und machte hinreichend klar, daß mehr als ein Ire dazu gehöre, ihn in eine Gewerkschaft zu pressen. Nach und nach erfuhr er dann, worum es den Männern in der Hauptsache ging, nämlich dem »Tempovorlegen« ein Ende zu setzen; sie suchten mit allem, was in ihren Kräften stand, eine Verlangsamung zu erzwingen, denn wie sie sagten, hielten manche die Hetze nicht durch und gingen dabei kaputt. Für so etwas aber brachte Jurgis kein Verständnis auf – er schaffe die Arbeit, erklärte er, also müssen die anderen das auch können, sofern sie was auf dem Kasten haben; wenn nicht, sollen sie eben woanders hingehen. Jurgis hatte keine Bücher studiert und hätte nicht gewußt, wie man »laissez faire« ausspricht, aber er war weit genug in der Welt herumgekommen, um zu wissen, daß man in ihr selber seinen Mann stehen muß und sich, wenn man dabei auf den Rücken fällt, Hilferufe von vornherein ersparen kann.
    Doch bekanntlich hat es schon Philosophen und auch weniger gelehrte Leute gegeben, die zwar auf die Theorien von Malthus schworen, sich aber in Zeiten einer Hungersnot trotzdem an Sammlungen für die Leidenden beteiligt haben. Genauso verhielt es sich mit Jurgis, der die Schwachen ruhig vor die Hunde gehen lassen wollte und dennoch den ganzen Tag wehen Herzens an seinen armen alten Vater dachte, der inzwischen irgendwo in den Yards herumlief und um eine Chance bettelte, sich sein Brot zu verdienen. Antanas Rudkus hatte von Kindesbeinen an immer gearbeitet; mit zwölf war er von daheim fortgelaufen, weil sein Vater auf seine Bemühungen, Lesen und Schreiben zu lernen, mit Prügel reagiert hatte. Er war auch anstellig und verläßlich; hatte man ihm seine Aufgabe vorher richtig klargemacht, konnte man ihn einen ganzen Monat allein arbeiten lassen. Und jetzt, da er an Leib und Seele verbraucht war, gewährte ihm die Welt nicht mehr Platz als einem alten, zahnlosen Hund. Zufällig hatte er ein Zuhause und jemanden, der selbst

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