Der Dschungel
andern. Zuerst einmal erfuhren sie, daß das Haus, das sie als »neu« gekauft hatten, in Wirklichkeit schon fünfzehn Jahre auf dem Buckel hatte. Das einzig Neue daran sei der Anstrich, sagte sie, aber der wäre so schlecht, daß er alle ein, zwei Jahre erneuert werden muß. Das Haus gehöre zu einer ganzen Reihe, gebaut von einer Gesellschaft, die vom Betrug armer Leute lebt. Sie hätten fünfzehnhundert Dollar dafür bezahlt, die Bauherren aber habe es keine fünfhundert gekostet – sie wisse das, denn ihr Sohn sei Mitglied einer politischen Organisation, in der auch ein Bauunternehmer ist, der ebensolche Häuser hinstellt. Die würden, und zwar immer gleich im Dutzend, aus billigstem und minderwertigstem Material zusammengehauen; Wert werde allein auf den äußeren Schein gelegt. Die Familie könne ihr glauben, daß noch Verdruß mit ihrem Haus bevorsteht, schließlich spreche sie aus Erfahrung. Sie und ihr Sohn hätten das ihre auf genau dieselbe Weise gekauft – der Baugesellschaft dann aber ein Schnippchen geschlagen, denn ihr Sohn sei Facharbeiter und mache seine hundert Dollar im Monat, und da er gescheit genug gewesen ist, nicht zu heiraten, wäre es ihnen möglich gewesen, das Haus abzubezahlen.
Großmutter Majauszkiene sah, daß ihre Gastgeber aus dieser Bemerkung nicht recht klug wurden; sie begriffen nicht, inwiefern man der Gesellschaft ein Schnippchen schlage, wenn man das Haus abbezahlt. Sie seien offenbar sehr unerfahren, sagte die alte Frau. Die Häuser wären zwar billig, würden aber mit dem Hintergedanken verkauft, daß die Leute die weiteren Zahlungen nicht schaffen. Wer mit den Raten in Rückstand gerät – und sei es auch nur um einen Monat der werde nicht nur das Haus los, sondern auch alles, was er schon dafür bezahlt hat, und die Gesellschaft verkaufe es dann von neuem. Die Familie fragte, ob sie denn oft dazu Gelegenheit bekomme. Großmutter Majauszkiene hob die Hände. Dieve – ja! Wie oft genau, wisse zwar niemand zu sagen, aber bestimmt in mehr als der Hälfte der Fälle, wie ihnen jeder bestätigen werde, der die Verhältnisse in Packingtown auch nur einigermaßen kennt. Sie selbst lebe schon so lange hier, wie dieses Haus steht, und wisse über alles Bescheid. Sei es denn schon vorher mal verkauft worden? Susimilki! Seit seinem Bau hätten nicht weniger als vier Familien, die sie ihnen mit Namen nennen kann, es zu erwerben versucht und das nicht geschafft. Sie wolle ihnen ein bißchen davon erzählen.
Als erste hätten Deutsche das Haus angekauft. Die vier Familien seien alle verschiedener Nationalität gewesen – Vertreter jener Völkergruppen, die einander in den Yards ablösten. Als sie mit ihrem Sohn nach Amerika kam, habe es ihres Wissens im ganzen Viertel nur noch eine weitere litauische Familie gegeben; damals hätten hier fast nur Deutsche gearbeitet: gelernte Metzger, die die Fabrikanten herübergeholt hatten, um den Betrieb in Gang zu bringen. Als später billigere Arbeitskräfte nachkamen, seien diese Deutschen weggezogen und Iren an ihre Stelle getreten – sechs bis acht Jahre lang wäre Packingtown eine regelrechte irische Stadt gewesen. Ein paar Kolonien von ihnen gebe es auch jetzt noch, genügend jedenfalls, daß die Iren sämtliche Gewerkschaftsposten besetzen, die gesamte Polizei stellen und somit all die Bestechungsgelder einstreichen können, aber von denen, die in den Fleischfabriken arbeiteten, hätten die meisten beim nächsten Lohnsturz, damals nach dem großen Streik, die Yards verlassen. Dann seien die Böhmen gekommen und nach denen die Polen. Diese Einwanderungswellen sollen direkt auf das Konto des alten Durham gegangen sein: Er hätte sich geschworen, den Packingtownern alle Gelüste, gegen ihn zu streiken, ein für allemal auszutreiben, und deshalb wären Werber ausgesandt worden, in allen Städten und Dörfern Europas das Märchen von den vielen Arbeitsplätzen und hohen Löhnen in den Schlachthöfen von Chicago zu verbreiten. Ganze Massen seien daraufhin angeschwärmt, und der alte Durham habe sie durch die Mühle gedreht, sie bis zum letzten Blutstropfen ausgepreßt und dann neue rübergeholt. Die Polen, zu Zehntausenden gekommen, seien schließlich von den Litauern an die Wand gedrückt worden, und jetzt würden die Litauer von den Slowaken verdrängt. Wer nun noch ärmer und elender sein kann als die Slowaken, wisse sie zwar nicht, doch keine Bange, die Fabrikanten würden schon welche finden. Sie herzulocken sei leicht, da die Löhne ja
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