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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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Marija nicht ab; sie machte ihrem Herzen Luft, und alles Klopfen des Versammlungsleiters, alle ringsum entstehende Verwirrung vermochten sie nicht zu bremsen. Ganz abgesehen von ihrem eigenen Kummer, sie kochte über vor Empörung über die generelle Ungerechtigkeit der Sache und hielt nicht zurück mit ihrer Meinung von den Fabrikanten und von einer Welt, die so etwas zuließ. Und dann, während der Saal noch von ihrer dröhnenden Stimme widerhallte, setzte sie sich hin und fächelte sich Luft zu. Die Versammlung beruhigte sich wieder und kehrte zurück zur Diskussion über die Wahl eines Schriftführers.
    Auch Jurgis hatte bei seinem ersten Besuch einer Gewerkschaftsversammlung ein abenteuerliches Erlebnis, jedoch ohne eigenes Zutun. Er war hingegangen, um sich unauffällig in eine Ecke zu setzen und sich mal anzusehen, was da so gemacht wurde; aber gerade diese Haltung stiller und wacher Aufmerksamkeit prädestinierte ihn zum Opfer. Tommy Finnegan war ein kleiner Ire mit großen, stechenden Augen und von wildem Aussehen, der als »Heber« arbeitete und etliche Schrauben locker hatte. Vor langer, langer Zeit war ihm etwas Seltsames widerfahren, das er nicht wieder los wurde, und seitdem galt all sein Sinnen und Trachten nur noch dem, es anderen klarzumachen. Beim Sprechen hielt er seine Opfer am Jackenrevers fest, und sein Gesicht rückte immer näher – was unangenehm war, denn er hatte schlechte Zähne. Das an sich machte Jurgis nichts aus, er bekam nur Angst. Tommy Finnegans Thema war das Wirken überirdischer Wesen, und er wollte von Jurgis wissen, ob er sich schon mal überlegt habe, daß die Art und Weise, wie wir hier unten die Dinge sehen, von höherer Warte aus vielleicht absolut unverständlich sei; ganz unstreitig gebe es in der Entwicklung dessen wundersame Geheimnisse. Und dann wurde Mr. Finnegan vertraulich und berichtete von eigenen Entdeckungen. »Wennst schon mal mit Geistern zu tun gehabt hast«, sagte er und sah Jurgis forschend an. Doch als der immer bloß den Kopf schüttelte fuhr er fort: »Macht nix, macht gar nix, kannst trotzdem unter ihrm Einfluß stehn. So wahr ich’s dir sagen tu: Die, wo Beziehung zur unmittelbaren Umgebung haben, die haben die meiste Macht! Wie ich jung war, hab ich die Vergönnung gehabt, mit Geistern zu verkehren ...« Und in diesem Stil redete Tommy Finnegan weiter, entwickelte eine ganze Philosophie, während Jurgis vor Unruhe und Verlegenheit der Schweiß ausbrach. Schließlich sah einer der Männer im Saal seine Not und kam ihn erlösen. Doch es dauerte eine Weile, ehe sich jemand fand, ihm alles zu erklären, und inzwischen hatte Jurgis schreckliche Angst, von dem verrückten kleinen Iren wieder festgenagelt zu werden, so daß er sich vorsichtig im Saal herumdrückte.
    Er versäumte jedoch keine einzige Versammlung. Mit der Zeit hatte er ein paar Brocken Englisch aufgeschnappt, und bei dem, was er nicht verstand, halfen ihm Freunde. Die Versammlungen verliefen meist recht stürmisch; oft redete ein halbes Dutzend Männer gleichzeitig, jeder in einem anderen englischen Dialekt, aber allen Rednern war es verzweifelt ernst – und Jurgis ebenfalls. Denn er begriff jetzt, daß ein Kampf im Gange war und daß dieser Kampf auch der seine war. Seit seiner Desillusionierung hatte er sich geschworen, außerhalb seiner Familie keinem Menschen mehr zu trauen, aber hier entdeckte er, daß er Brüder im Leid und Bundesgenossen hatte. Ihre einzige Chance im Leben bestand im Zusammenschluß, und so wurde der Kampf zu einem Kreuzzug. Jurgis war immer Mitglied der Kirche gewesen, weil sich das so gehörte, doch hatte ihm die Kirche nie viel bedeutet; so etwas überließ er den Frauen. Hier aber fand er eine neue Religion – eine, die ihm etwas sagte, die ihn voll erfüllte, und mit all dem Eifer und Ungestüm des Frischbekehrten zog er nun als Missionar aus. Unter den Litauern waren viele noch nicht organisiert, und um die bemühte sich Jurgis, rang mit ihnen wie im Gebet, predigte ihnen den rechten Weg. Manchmal waren sie stur, wollten den nicht sehen, und leider hatte Jurgis nicht immer genügend Geduld! Er vergaß, vor wie kurzer Zeit er selbst noch blind gewesen war – ganz wie all die Kreuzfahrer, seit die ersten ausgezogen waren, das Evangelium der Brüderlichkeit mit Waffengewalt zu verbreiten.

9
    Die Entdeckung der Gewerkschaft trieb Jurgis auch an, Englisch zu lernen. Er wollte wissen, um was es auf den Versammlungen ging, wollte sich beteiligen können, und so

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