Der Dschungel
liefen Tränen über die Wangen. Es war ein wundervolles Vorrecht, so Zugang zur Seele eines Genies zu bekommen, an den Wonnen und Qualen seines tiefsten Innenlebens teilhaben zu dürfen.
Marija erwuchsen aus dieser Freundschaft noch andere Vorteile, und zwar materieller Art. Tamoszius bekam schönes Geld bezahlt, wenn er bei festlichen Anlässen Musik machte, und er wurde auch zu Geselligkeiten und kleinen Feiern eingeladen, denn die Leute wußten, er war zu gutmütig, um ohne seine Geige zu kommen, und hatte er die bei sich, ließ er sich leicht überreden, den anderen zum Tanz aufzuspielen. Einmal getraute er sich, Marija zu fragen, ob sie wohl mitkommen würde, und zu seiner großen Freude sagte sie ja. Von da an ging er nie mehr ohne sie irgendwohin, und waren die Gastgeber gute Freunde von ihm, nahm er auch die übrige Familie mit. In jedem Fall aber brachte Marija den Kindern eine große Tüte Kuchen und Sandwiches mit heim und konnte erzählen, was es alles Gutes gegeben habe. Gezwungenermaßen hielt sie sich auf diesen Feiern die meiste Zeit am Büfett auf, denn tanzen durfte sie höchstens mit anderen Frauen oder ganz alten Männern; Tamoszius war nicht nur von leicht erregbarem Temperament, sondern auch wahnsinnig eifersüchtig, und jeder ledige Mann, der seinen Arm um Marijas füllige Taille zu legen wagte, brachte damit unweigerlich die Kapelle aus dem Takt.
Sich auf solche Zerstreuungen an Samstagabenden freuen zu können erleichterte einem die schwere Schinderei die Woche hindurch. Die Familie war zu arm und zu abgearbeitet, um viele Bekanntschaften zu schließen und ein geselliges Leben zu führen, und in Packingtown hat man gewöhnlich nur Kontakt mit seinen nächsten Nachbarn und Arbeitskollegen, so daß das ganze Viertel praktisch aus unzähligen kleinen Dörfern besteht. Jetzt aber hatte jemand aus der Familie die Möglichkeit, ein bißchen herauszukommen und seinen Horizont zu erweitern, und so konnten sie sich jede Woche über neue Leute unterhalten: Was die und die angehabt habe, wo sie arbeite, was sie dort verdiene und mit wem sie gehe; daß der und der sein Mädel betrüge, daß sich seine alte und seine neue Flamme in die Haare geraten wären und was sie sich alles an den Kopf geworfen hätten; daß ein anderer Mann seine Frau schlage und ihren ganzen Arbeitslohn versaufe, ja sogar ihre Kleider ins Pfandhaus trage. Mancher wird das vielleicht tadelnd Klatschen nennen – aber schließlich muß man sich doch mal über das unterhalten was man gesehen und gehört hat.
Eines Samstags, als sie auf dem nächtlichen Heimweg von einer Hochzeit waren, faßte Tamoszius Mut, setzte seinen Geigenkasten auf der Straße ab und erklärte sich, worauf Marija ihn in die Arme schloß. Am nächsten Tag erzählte sie alles den anderen und weinte dabei fast vor Glück; Tamoszius, sagte sie, sei ein so wundervoller und liebenswerter Mensch. Von nun an machte er seine Liebeserklärungen nicht mehr mit der Fiedel, sondern sie saßen jetzt stundenlang in der Küche und hielten sich selig umschlungen; in stillschweigender Übereinkunft nahm die Familie nicht zur Kenntnis, was in jener Ecke vor sich ging.
Sie planten, im Frühjahr zu heiraten, sich die Mansarde auszubauen und dort zu wohnen. Tamoszius verdiente gut, und nach und nach zahlte die Familie ihre Schulden bei Marija ab, so daß es bald für den Anfang reichen mußte – nur bestand sie in ihrer unvernünftigen Gutmütigkeit darauf, jede Woche einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Lohns für Dinge auszugeben, von denen sie wußte, daß die anderen sie brauchten. Marija war nämlich die Kapitalistin in der Familie, denn sie hatte sich inzwischen zu einer routinierten Lackiererin entwickelt; für je hundertzehn Büchsen bekam sie vierzehn Cent, und sie schaffte in der Minute mehr als zwei. Sie fühlte sich sozusagen am Drücker, und die Nachbarschaft hallte von ihrem Jauchzen wider.
Doch ihre Bekannten schüttelten den Kopf und warnten sie davor, zuviel auf einmal zu erwarten; daß eine solche Glücksträhne anhält, damit könne man nicht rechnen – irgend etwas komme immer dazwischen. Marija aber fuhr unbeirrt fort, Pläne zu schmieden und von all den schönen Dingen zu träumen, die sie für ihr Heim anschaffen wollte, so daß, als der Schlag dann kam, ihr Kummer nicht mit anzusehen war.
Denn ihre Fabrik stellte den Betrieb ein! Marija hatte in dem Glauben gelebt, eher würde die Sonne das Scheinen einstellen – das Unternehmen war ihr als etwas
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