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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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begann er, sich umzuhorchen und sich Wörter zu merken. Einige lernte er von den Kindern, die ja zur Schule gingen und rasche Fortschritte machten, und ein Bekannter lieh ihm ein kleines Buch mit Vokabeln und Redewendungen, die Ona ihm vorlesen mußte. Jetzt bedauerte Jurgis, daß er nicht lesen konnte, und als er später im Winter von einer kostenlosen Abendschule erfuhr, meldete er sich da an. Von nun an ging er jeden Tag, sofern er zeitig Feierabend hatte, zur Schule, sogar dann, wenn es bloß für die letzte halbe Unterrichtsstunde war. Da lehrte man ihn Englisch sprechen und lesen; für all das andere, das er dort auch noch hätte lernen können, fehlte es ihm an Zeit.
    Die Gewerkschaft bewirkte zudem noch etwas anderes: Jurgis begann sich für das Land zu interessieren, in dem sie jetzt lebten. Das war sein erster Schritt hin zum Verständnis von Demokratie. Die Gewerkschaft bildete einen Staat im kleinen, eine Miniaturrepublik: Ihre Angelegenheiten waren die Angelegenheiten aller, und jeder hatte ein Mitspracherecht. Mit anderen Worten, in der Gewerkschaft lernte Jurgis, über Politik zu sprechen. Dort, wo er herkam, hatte es keine Politik gegeben – in Rußland nahm man die Regierung hin als eine Strafe des Himmels, so wie Hagel und Blitzschlag. »Kusch, Brüderchen, kusch«, flüsterten die weisen alten Bauern, »es geht alles vorüber.« Als Jurgis noch ganz neu in Amerika war, hatte er gemeint, hier wäre das nicht anders. Er hörte zwar Leute sagen, dies sei ein freies Land – aber was hieß das? Er sah, daß es hier genauso wie in Rußland Reiche gab, denen alles gehörte; und wer hier keine Arbeit fand, tat dem der Hunger denn weniger weh?
    In Jurgis’ etwa dritter Woche bei Brown war während der Mittagspause einer von den Nachtwachleuten zu ihm gekommen und hatte ihn gefragt, ob er sich nicht naturalisieren lassen und amerikanischer Staatsbürger werden wolle. Jurgis wußte nicht, wozu das gut sein sollte, aber der Mann zählte ihm die Vorteile auf: Zuerst einmal koste es ihn keinen Cent, ferner bekomme er einen halben Tag frei, und das bei voller Bezahlung, und außerdem dürfe er, wenn Wahlen sind, seine Stimme abgeben – das sei doch immerhin was wert. Jurgis nahm natürlich mit Dank an. Der Wachmann sprach ein paar Worte mit dem Meister, und Jurgis war für den Rest des Tages entschuldigt. Als er später für seine Hochzeit einen Tag unbezahlten Urlaub haben wollte, wurde ihm der verweigert, jetzt aber gab man ihm frei und zahlte sogar den Lohn weiter – welche Macht dieses Wunder zuwege brachte, mochte allein der Himmel wissen. Jedenfalls ging Jurgis mit dem Mann mit, der dann noch etliche andere Neueinwanderer abholte, Polen, Litauer und Slowaken, und sie alle nach draußen führte, wo ein großer vierspänniger Wagen stand, in dem bereits fünfzehn bis zwanzig Leute saßen. Es war eine gute Gelegenheit, sich die Stadt anzuschauen, und bald herrschte fröhliche Stimmung, denn in dem Wagen wurde reichlich Bier herumgereicht. Sie fuhren in die City und hielten vor einem imposanten Gebäude aus Granit, wo sie von einem Beamten in Empfang genommen wurden, der die Papiere schon fertig hatte und nur noch die Namen einzusetzen brauchte. Einer nach dem anderen legten die Männer einen Eid ab, von dem sie kein einziges Wort verstanden, und dann bekam jeder eine hübsch verzierte Urkunde mit einem großen roten Siegel und dem Wappen der USA darauf ausgehändigt und gesagt, er sei nun amerikanischer Staatsbürger und damit seinesgleichen mit dem Präsidenten.
    Ein, zwei Monate später erschien der Wachmann abermals bei Jurgis und sagte ihm, wo er hingehen müsse, sich in die Wählerlisten eintragen zu lassen. Und als schließlich der Wahltag heranrückte, war in den Fabriken ein Anschlag ausgehängt, daß wer wählen gehen will, an jenem Morgen erst um neun Uhr anzufangen brauche. Der Wachmann nahm Jurgis und seine übrigen Schäfchen mit ins Hinterzimmer einer Kneipe und zeigte einem jeden, wo und wie er auf dem Stimmzettel sein Kreuz machen müsse. Dann gab er jedem zwei Dollar und führte sie zum Wahllokal, wo ein eigens abkommandierter Polizist dafür sorgte, daß sie ungehindert durchkamen. Jurgis war ziemlich stolz darauf, solches Glück gehabt zu haben, bis er heimkam und hörte, was Jonas berichtete. Der hatte den Anführer beiseite genommen und ihm zugeflüstert, für vier Dollar würde er dreimal wählen – und das Angebot war angenommen worden!
    Hier in der Gewerkschaft kam Jurgis nun mit

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