Der Dschungel
dafür gehabt, und als Marija es entgegen dem Rat und der Warnung aller noch einmal versuchte, befahl er ihr ungehalten, zurück an ihre Arbeit zu gehen. Was sich danach dann tat, konnte Marija nicht sagen, aber am Nachmittag jenes Tages teilte ihr die Aufseherin mit, ihre Dienste würden hier nicht mehr benötigt. Die arme Marija hätte nicht verdutzter sein können, wäre sie von der Frau ins Gesicht geschlagen worden; erst traute sie ihren Ohren nicht, dann aber wurde sie wütend und schwor, sie werde trotzdem kommen – die Stelle gehöre ihr! Schließlich setzte sie sich mitten auf den Fußboden und weinte jämmerlich.
Es war eine grausame Lehre, aber das hatte Marija nun davon, daß sie immer mit dem Kopf durch die Wand wollte; sie hätte auf die mit Erfahrung hören sollen. Nächstes Mal würde sie ihren Platz kennen, wie die Aufseherin es ausdrückte. Marija flog also raus, und der Familie stellte sich wieder einmal die Existenzfrage.
Diesmal war es insofern besonders hart, da Ona bald niederkommen würde und Jurgis sich abmühte, dafür Geld zurückzulegen. Über die Hebammen, die sich in Packingtown wie die Flöhe vermehrten, hatte er Schreckliches gehört, und deshalb wollte er für Ona einen Arzt haben. Jurgis konnte sehr unnachgiebig sein, wenn er wollte, und das war jetzt der Fall, sehr zum Kummer der Frauen, die einen männlichen Geburtshelfer als nicht schicklich empfanden und meinten, so etwas sei allein Frauensache. Außerdem, so wandten sie ein, koste der billigste Arzt mindestens fünfzehn Dollar, und wenn er hinterher seine Rechnung schickt, stehe wahrscheinlich sogar noch mehr drauf. Doch Jurgis blieb fest und erklärte, er werde das bezahlen, und wenn er dafür aufs Essen verzichten muß.
Marija waren bloß noch etwa fünfundzwanzig Dollar geblieben. Tag für Tag klapperte sie die Yards ab und fragte nach Arbeit, doch jetzt ohne Hoffnung, welche zu finden. Hatte sie ihr inneres Gleichgewicht, konnte sie arbeiten wie ein Kerl, aber Fehlschläge warfen sie leicht um, und so kam sie abends in jämmerlicher Verfassung heim. Diesmal zog sie die Lehre, die Ärmste, zog sie gleich zehnfach, und die ganze Familie lernte mit: Wenn du in Packingtown einen Arbeitsplatz hast, dann halte ihn dir unter allen Umständen!
Marijas Arbeitssuche zog sich viereinhalb Wochen lang hin. An die Gewerkschaft zahlte sie natürlich keinen Beitrag mehr; sie verlor jedes Interesse an ihr, ja schalt sich eine Törin, daß sie sich hatte da hineinziehen lassen. Als sie sich schon so gut wie verloren glaubte, erzählte ihr jemand, in der »Zurichterei« von der und der Konservenfabrik beständen Aussichten. Sie ging hin und bekam dort tatsächlich Arbeit. Genommen wurde sie, weil der Meister sah, daß sie Muskeln hatte wie ein Mann; also entließ er einen Mann, stellte Marija ein und zahlte ihr etwas über die Hälfte von dem, was ihn ihr Vorgänger gekostet hatte.
In ihrer Anfangszeit in Packingtown hätte Marija es als unter ihrer Würde betrachtet, solche Arbeit anzunehmen. Sie bestand im »Abfieseln« der Knochen jener kranken Rinder, von denen Jurgis vor kurzem gehört hatte. Marija war in einen jener Räume gesperrt, in die selten Tageslicht kam; darunter lag die Kühlhalle, wo das Fleisch eingefroren wurde, und darüber die Kocherei, so daß sie ewig eiskalte Füße hatte, während ihr der Kopf oft so heiß war, daß sie nach Luft japste. Zentnerweise Fleisch von Knochen schälen, dabei den ganzen Tag stehen, mit schweren Stiefeln an, auf immer feuchtem Boden voller Pfützen, stets gewärtig, bei einer Branchenflaute auf unbestimmte Zeit brotlos zu werden, in Stoßzeiten aber lange Überstunden machen zu müssen und dabei so gehetzt zu werden, bis sie am ganzen Leibe flog, die Gewalt über das Messer verlor und sich durch einen Schnitt lebensgefährlich infizierte – so sah das neue Leben aus, das vor ihr lag. Doch Marija mit ihrer Pferdenatur lachte nur und packte es an; es würde sie ja wieder in den Stand setzen, Kostgeld zu zahlen und die Familie zu unterstützen. Und was Tamoszius betraf – nun, sie warteten schon so lange, da gehe es auch noch ein bißchen länger. Mit seinem Verdienst allein kämen sie unmöglich aus, und ohne den ihren käme wiederum die Familie nicht aus. Er könne sie weiter besuchen kommen, mit ihr in der Küche sitzen und ihre Hand halten – damit müsse er sich bescheiden. Aber von Tag zu Tag wurde das Spiel von Tamoszius’ Geige leidenschaftlicher und herzbewegender, und Marija
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