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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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saß mit zusammengepreßten Händen, feuchten Wangen und bebendem Körper da, denn in den schluchzenden Klängen vernahm sie die Stimmen der Ungeborenen, die in ihr nach Leben schrien.
     
    Marijas Lektion kam gerade noch rechtzeitig, um Ona vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren. Auch Ona war mit ihrer Stelle unzufrieden und hatte dazu weit mehr Anlaß als Marija. Zu Hause erzählte sie nicht einmal die Hälfte davon, weil sie sah, daß es Jurgis quälte, und außerdem fürchtete sie seine Reaktion. Schon seit langem merkte Ona, daß Miss Henderson, ihre Aufseherin, sie nicht mochte. Zuerst glaubte sie, es hänge mit jener alten Geschichte zusammen, daß sie unklugerweise den Tag nach ihrer Hochzeit hatte frei haben wollen. Dann kam sie zu dem Schluß, es müsse daran liegen, daß sie der Aufseherin nicht ab und zu ein Geschenk zusteckte; sie war eine von jenen, die so etwas erwarteten, und wer es tat, den zog sie auf alle mögliche Weise vor. Mit der Zeit ging Ona jedoch auf, daß der wahre Grund tiefer lag. Miss Henderson arbeitete noch nicht sehr lange bei Brown, und es dauerte eine Weile, bis die Gerüchte ihr nachfolgten. Da sickerte dann durch, daß sie sich hatte aushalten lassen, die Geliebte eines Abteilungsleiters hier aus dem Haus gewesen war. Ihren Posten hatte er ihr wohl verschafft, damit sie schwieg – mit nicht allzu großem Erfolg, denn man hörte ein paarmal, wie sie sich stritten. Sie hatte das Wesen einer Hyäne, und der Saal, der ihr unterstand, war deshalb zum reinsten Hexenkessel geworden. Einige der Arbeiterinnen, vom selben Kaliber wie sie, schmeichelten ihr und trugen ihr Klatsch über die anderen zu, so daß dort immer der Teufel beziehungsweise die Furien los waren. Außerdem und noch schlimmer: Miss Henderson wohnte in einem übel beleumundeten Haus in der City, lebte dort mit einem grobschlächtigen, rot-gesichtigen Iren namens Connor zusammen, der Meister der Ladekolonne draußen war und die Frauen und Mädchen beim Kommen und Gehen belästigte. In den Flautezeiten gingen manche der Arbeiterinnen mit der Henderson in das Haus in der City – man konnte ohne Übertreibung sagen, daß sie ihren Saal bei Brown als Rekrutierungsstelle für dieses Freudenhaus führte. Zuweilen setzte sie auch Frauen aus dem Bordell neben anständige Mädchen, nachdem andere anständige Mädchen entlassen worden waren, um Plätze für sie freizumachen. Wer bei der Henderson arbeitete, der wurde den Gedanken an jenes Haus den ganzen Tag nicht los – stets lag von ihm ein Hauch in der Luft, so wie im nächtlichen Packingtown der Gestank von den Schmalzfabriken, wenn der Wind plötzlich drehte. Geschichten darüber machten die Runde; die Arbeiterinnen erzählten sie über die Tische hinweg und zwinkerten sich dabei zu. Ohne die Furcht vorm Verhungern hätte es Ona an einem solchen Ort keinen Tag länger ausgehalten, und wie die Dinge lagen, war sie ja nicht einmal sicher, ob sie noch am nächsten Tag bleiben durfte. Sie erkannte jetzt, warum Miss Henderson etwas gegen sie hatte: weil sie eine anständige verheiratete Frau war. Und sie wußte, daß auch die Zuträgerinnen und Speichelleckerinnen sie deshalb haßten und alles taten, ihr das Leben schwerzumachen.
    In Packingtown aber hätte, wer in solchen Dingen heikel war, nirgends bleiben können; es gab nicht eine einzige Fabrik oder Firma, wo nicht ein käufliches Mädchen besser zurechtkam als ein anständiges. Die Bevölkerung hier, ganz aus Proletariat und zumeist aus Ausländern bestehend, stand immer am Rande des Verhungerns und hing in bezug auf ihre Überlebensmöglichkeiten von den Launen von Männern ab, die keinen Deut weniger brutal und skrupellos waren als seinerzeit die Sklavenschinder; unter solchen Umständen war Unmoral so unvermeidlich und genauso weitverbreitet wie unter dem System der Sklaverei. Was sich in den Fabriken da tagtäglich tat, läßt sich gar nicht wiedergeben; es fiel nur nicht so auf wie einst, weil Herren und Sklaven sich nicht in der Hautfarbe unterschieden.
     
    Eines Morgens blieb Ona zu Hause, Jurgis holte, wie er sich in den Kopf gesetzt hatte, einen Arzt, und sie wurde von einem prachtvollen Jungen entbunden. Er war mächtig groß, und da Ona doch so zart und zierlich wirkte, erschien es ganz unglaublich. Jurgis stand da, starrte den kleinen Fremdling stundenlang an und konnte gar nicht fassen, daß dies Wirklichkeit war.
    Die Geburt dieses Jungen bildete für ihn ein entscheidendes Ereignis. Sie machte ihn

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