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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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daß er den abenteuerlichen Gedanken gefaßt hatte, im Frühling auszubrechen? Zwei Jahre lang war er in Durhams dunklen Kellern wie ein Pferd an einen eine halbe Tonne schweren Karren angeschirrt gewesen, hatte nie ausspannen können, abgesehen von sonntags und den vier Feiertagen im Jahr, und nie ein Wort des Dankes erhalten – nur Fußtritte, Püffe und Flüche, wie sie sich kein anständiger Hund hätte gefallen lassen. Und jetzt war der Winter vorbei, die Frühlingswinde wehten, und in einem Tagesmarsch konnte man den Rauch von Packingtown für immer hinter sich gelassen haben und dort sein, wo das Gras grün war und die Blumen in allen Farben des Regenbogens leuchteten.
    Aber nun war das Einkommen der Familie um mehr als ein Drittel geschrumpft, der Essensbedarf jedoch nur um ein Elftel, so daß sie schlimmer dran waren denn je. Außerdem liehen sie sich Geld von Marija, verzehrten also deren Sparkonto und machten ihre Hoffnungen auf Heirat und Glücklichsein wieder einmal zunichte. Ja sie verschuldeten sogar bei Tamoszius Kuszleika und ließen ihn allmählich verarmen. Tamoszius hatte keine Verwandten zu unterstützen, und mit seiner wundervollen Begabung hätte er eigentlich genügend Geld zusammenbringen und gut vorankommen müssen; aber er war in Liebe entbrannt und hatte sich damit dem Schicksal ausgeliefert, mit ins Unglück gezogen zu werden.
    Sie beschlossen, noch zwei der Kinder von der Schule zu nehmen. Nach Stanislovas, der jetzt fünfzehn war, kam ein Mädchen, die zwei Jahre jüngere Kotrina, und dann folgten zwei Jungen, der elfjährige Vilimas und der zehnjährige Nikalojus. Beide waren aufgeweckte Burschen, und warum sollte ihre Familie darben, wenn Zehntausende von Kindern, die nicht älter waren als sie, ihren Lebensunterhalt selbst verdienten? So bekamen sie eines Morgens jeder einen Vierteldollar und eine Wurstsemmel in die Hand gedrückt und wurden, den Kopf mit guten Ratschlägen vollgestopft, in die City geschickt, um dort Zeitungen verkaufen zu lernen. In Tränen aufgelöst kamen sie am späten Abend nach Hause, nachdem sie die fünf oder sechs Meilen zu Fuß zurückgelegt hatten, und berichteten, ein Mann habe ihnen angeboten, sie dorthin zu bringen, wo es die Zeitungen gibt, sich von ihnen das Geld geben lassen, sei dann in einen Laden gegangen, um sie zu holen – und nie wiedergekommen. Sie erhielten dafür eine Tracht Prügel und wurden am nächsten Tag erneut losgeschickt. Diesmal fanden sie die Verkaufsstelle und besorgten sich ihren Vorrat, und nachdem sie bis fast mittags herumgelaufen und jedem, den sie sahen, »Zeitung?« zugerufen hatten, nahm ihnen ein erwachsener Zeitungsverkäufer, in dessen Revier sie eingedrungen waren, den ganzen Packen weg und verdrosch sie obendrein. Zum Glück hatten sie bereits ein paar Zeitungen verkauft, und so kamen sie wenigstens mit beinahe soviel Geld heim, wie ihnen mitgegeben worden war.
    Nach einer Woche ähnlicher Mißgeschicke lernten die beiden Knirpse allmählich ihr Gewerbe: wie die verschiedenen Zeitungen hießen, wie viele Exemplare sie von jeder brauchten, welche sie welchen Leuten anbieten mußten und wo man am besten hinging und wo besser nicht. Jetzt brachten sie, wenn sie früh um vier das Haus verlassen hatten und erst mit Morgenzeitungen und dann mit Abendblättern durch die Straßen gezogen waren, spätabends jeder zwanzig bis dreißig, vielleicht auch mal vierzig Cent heim. Davon ging noch ihr Fahrgeld ab, denn zum Laufen war der Weg zu weit. Aber nach einer Weile machten sie die Bekanntschaft anderer Zeitungsjungen und lernten manches dazu, zum Beispiel ohne Billett zu fahren. Sie stiegen ein, wenn der Schaffner nicht hinschaute, und verkrochen sich in der Menge; in drei von vier Fällen fragte er sie nicht nach dem Fahrschein, weil er sie entweder nicht bemerkte oder annahm, sie hätten schon bezahlt. Fragte er sie aber doch, durchwühlten sie ihre Taschen und fingen schließlich an zu weinen, worauf hin meist irgendeine gütige alte Dame für sie bezahlte; wenn nicht, versuchten sie den Trick noch mal in einer anderen Bahn. Sie empfanden das nicht als etwas Unrechtes. Was konnten denn sie dafür, wenn die Wagen während des Berufsverkehrs so überfüllt waren, daß die Schaffner mit dem Kassieren gar nicht durchkamen? Und außerdem sagten die Leute ja, die Straßenbahngesellschaften wären selber unehrlich und hätten sich ihre Streckengenehmigungen mit Hilfe korrupter Politiker unter den Nagel gerissen.
     
    Jetzt, da

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