Der Dschungel
der Winter vorbei war, keine weiteren Schneestürme drohten, keine Kohlen mehr gekauft werden mußten und ein zweiter Raum warm genug war, um die Kinder dort hineinzuverfrachten, wenn sie laut wurden, ließ Jurgis’ Reizbarkeit spürbar nach. Der Mensch vermag sich mit der Zeit an alles zu gewöhnen, und Jurgis hatte sich daran gewöhnt, zu Hause herumzuliegen. Ona erkannte das und war sehr darauf bedacht, seinen Seelenfrieden nicht dadurch zu zerstören, daß sie ihn wissen ließ, wie schlecht es um ihre Gesundheit bestellt war. Bei dem häufigen Frühjahrsregen jetzt mußte sie oft, so teuer es auch war, mit der Bahn zur Arbeit fahren; sie wurde von Tag zu Tag blasser, und ungeachtet ihrer guten Vorsätze tat es ihr zuweilen weh, daß Jurgis das nicht bemerkte. Sie fragte sich, ob er für sie überhaupt noch so viel empfinde wie früher, ob all dieses Elend seine Liebe nicht zermürbt habe. Sie konnte ja die meiste Zeit nicht mit ihm zusammen sein, mußte mit ihren Sorgen allein fertig werden, so wie er mit den seinen; kam sie nach Hause, war sie völlig erschöpft, und wenn sie sich dann unterhielten, ging es immer nur um ihre bedrückende finanzielle Situation – bei einem solchen Leben war es wirklich schwer, Gefühle wachzuhalten. Manchmal stieg in Ona Schmerz darüber auf; in der Nacht schlang sie dann plötzlich die Arme um ihren großen, starken Mann, brach in leidenschaftliches Schluchzen aus und fragte ihn, ob er sie auch wirklich liebe. Der arme Jurgis, der unter dem ständigen Druck der Not tatsächlich etwas nüchterner geworden war, wußte das nicht zu deuten und konnte nur versuchen, sich zu erinnern, wann er das letzte Mal unbeherrscht gewesen war. Ona mußte ihm dann vergeben, und danach weinte sie sich in den Schlaf.
Ende April ging Jurgis zum Arzt, bekam dort eine Bandage für seinen Knöchel und durfte wieder arbeiten. Dazu gehörte jedoch mehr als die ärztliche Erlaubnis, denn als er in der Schlachthalle von Brown erschien, eröffnete ihm der Meister, man habe ihm seine Stelle nicht freihalten können. Er begriff: Der Meister hatte wen anders gefunden, der die Arbeit genauso gut machte, und wollte jetzt nicht wieder umbesetzen. Jurgis stand im Eingang, blickte traurig zu seinen werkenden Kollegen hinüber und kam sich wie ausgestoßen vor. Dann ging er hinaus und reihte sich in die Schar der Arbeitsuchenden am Tor ein.
Diesmal aber hatte Jurgis nicht mehr so viel festes Selbstvertrauen wie damals und auch nicht mehr so viel Grund dazu. Er war nicht mehr der stattlichste Mann in der Menge, und die Meister rissen sich nicht mehr um ihn; hager geworden und schäbig gekleidet, machte er einen erbärmlichen Eindruck. Und es gab Hunderte, die ebenso aussahen, denen ebenso zumute war wie ihm und die schon seit Monaten in Packingtown um Arbeit bettelten. In Jurgis’ Leben war das eine kritische Zeit, und wäre er ein schwächerer Charakter gewesen, hätte er denselben Weg genommen wie die anderen. Diese armen Teufel von Arbeitslosen standen jeden Morgen vor der Fabrik herum, bis die Polizei sie vertrieb, und dann verliefen sie sich in die Lokale. Sehr wenige von ihnen hatten die Nerven, sich den barschen Abweisungen auszusetzen, mit denen sie rechnen mußten, wenn sie versuchten, in die Fabriken hineinzugelangen und persönlich mit den Aufsehern zu sprechen; hatten sie morgens kein Glück, blieb ihnen nichts weiter zu tun, als den Rest des Tages und den Abend über in den Kneipen herumzulungern. Jurgis wurde davor bewahrt – zum Teil sicherlich auch durch den Umstand, daß das Wetter angenehm war und keine Notwendigkeit bestand, sich drinnen aufzuhalten, aber hauptsächlich doch weil er immer das traurige kleine Gesicht seiner Frau vor Augen hatte. Ich muß unbedingt Arbeit finden! sagte er sich und kämpfte unablässig gegen das Verzweifeln an. Ich muß wieder eine Stelle haben und ein bißchen Spargeld, ehe der nächste Winter kommt!
Aber es gab keine Arbeit für ihn. Er suchte all seine Kameraden von der Gewerkschaft auf – selbst in dieser schweren Zeit war er nicht ausgetreten – und bat sie, ein Wort für ihn einzulegen. Er ging alle, die er kannte, um eine Chance an, dort bei ihnen oder anderswo. Von morgens bis abends lief er durch die Yards, von Fabrik zu Fabrik, von Firma zu Firma, und als er schon in jedem Gebäude, in jeder Halle, wo er hinein konnte, gewesen war und überall gesagt bekommen hatte, man habe keine offene Stellen, redete er sich ein, vielleicht sei inzwischen dort,
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