Der Dschungel
befanden sich sogar an jeder ihrer vier Ecken welche und in der Mitte des Häuserblocks auch noch ein paar. Und jede winkte ihm einladend zu – jede hatte ihre eigene Atmosphäre, ihre eigenen Verlockungen. Wenn er zur Arbeit ging und ebenso auf dem Heimweg – vor dem Hellwerden und nach Einbruch der Dunkelheit –, immer waren dort Wärme und Lichterschein, der Dampf von warmem Essen und vielleicht auch Musik oder ein freundliches Gesicht und ein aufmunterndes Wort. Jurgis entwickelte einen Hang, Ona stets untergehakt an seiner Seite zu haben, wenn er auf die Straße ging; er drückte sie eng an sich und schritt schnell aus. Daß Ona den Grund dafür ahnte oder gar wußte, war mehr als demütigend – nur daran zu denken machte ihn wild; es war wirklich ungerecht, denn Ona hatte noch nie Alkohol gekostet und konnte es also gar nicht verstehen. Manchmal in Stunden der Verzweiflung, ertappte er sich bei dem Wunsch, daß auch sie erfahren möge, was einem das Trinken geben kann, so daß er sich nicht mehr vor ihr zu schämen brauchte. Dann könnten sie gemeinsam trinken und dem Elend entfliehen – für eine Weile zumindest, egal, was nachher werde.
So kam eine Zeit, da Jurgis’ Sinnen und Denken nahezu gänzlich von dem Kampf mit dem Verlangen nach Schnaps in Anspruch genommen wurde. Er hatte Stunden übler Laune, in denen er Ona und die ganze Familie haßte, weil sie ihm im Wege standen: Er sei ein Narr gewesen zu heiraten, habe sich gebunden und damit zum Sklaven gemacht. Nur weil er verheiratet ist, müsse er in den Yards bleiben; sonst könnte er so wie Jonas einfach davonlaufen und auf die Fabrikanten pfeifen. Ledige Männer gab es in der Düngerbude zwar nur wenige – und die arbeiteten auch bloß deshalb dort, um die Zeit bis zu ihrem Abhauen zu überbrücken. Inzwischen aber hatten sie bei der Arbeit wenigstens etwas, das ihre Gedanken beschäftigte, nämlich die Erinnerung an ihr letztes Besäufnis und die Vorfreude auf das nächste. Von Jurgis dagegen wurde erwartet, daß er jeden Cent heimbrachte; nicht einmal mittags konnte er mit den anderen in die Kneipe gehen – ihm mutete man zu, sein Essen auf einem Düngerhaufen einzunehmen.
Natürlich war Jurgis nicht immer in solcher Stimmung, denn er liebte seine Familie noch. Aber in dieser Zeit kam eben alles zusammen. Der arme kleine Antanas zum Beispiel – der es stets geschafft hatte, ihn mit einem Lächeln zu gewinnen –, der kleine Antanas lächelte jetzt nicht, denn er war am ganzen Körper mit roten Pusteln besät. Er hatte kurz hintereinander die üblichen Kinderkrankheiten durchmachen müssen, im ersten Jahr Scharlach, Ziegenpeter und Keuchhusten, und nun hatte er die Masern. Außer Kotrina war niemand da, ihn zu pflegen, und es sah auch kein Arzt nach ihm, weil sie dazu zu arm waren und Kinder ja im allgemeinen an Masern nicht sterben. Ab und an fand Kotrina zwar Zeit, meist aber mußte sie ihn sich selbst überlassen in seinem verbarrikadierten Bettchen; unten am Fußboden zog es stets, und wenn er sich erkältete, konnte er sich den Tod holen. Nachts wurde er festgebunden, damit er die Zudecke nicht wegstrampelte, während die Familie im bleiernen Schlaf der Erschöpfung lag. Manchmal schrie er stundenlang, fast schon so, als habe er Schreikrämpfe, und versagte ihm schließlich die Stimme, lag er da und wimmerte vor sich hin. Er glühte vor Fieber und hatte stark entzündete Augen; bei Tage war er geradezu unheimlich anzuschauen: ein einziger Klumpen schweißverklebter Pusteln, ein feuerrotes Häufchen Elend.
Doch war das alles nicht ganz so schlimm, wie es sich anhört, denn trotz seiner Masern blieb der kleine Antanas das am wenigsten unglückliche Mitglied der Familie. Er konnte seine Leiden durchaus ertragen – es war, als bekomme er all diese Krankheiten nur, um zu beweisen, welch Ausbund an Gesundheit er war. Gewöhnlich trapste er den ganzen Tag mit hungrigen Augen in der Küche umher – sein Anteil an der Familienration war ihm nicht groß genug, und in seinem Verlangen nach mehr ließ er sich kaum bändigen. Obwohl Antanas erst etwas über ein Jahr alt war, konnte niemand als sein Vater mit ihm fertig werden.
Es schien, als habe er seiner Mutter alle Kraft genommen – und nichts für nachkommende Geschwister übriggelassen. Ona erwartete wieder ein Kind, und allein schon daran zu denken war furchtbar; selbst in seiner jetzigen Dumpfheit konnte Jurgis nicht übersehen, daß weitere Not auf sie zukam, und bei diesem Gedanken
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