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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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alte Freuden streckten ihnen die Arme entgegen, Hoffnungen und Träume von einst riefen nach ihnen, und sie regten sich unter der Bürde, die auf ihnen lag, und empfanden deren unermeßlich schweres und sich nie verringerndes Gewicht. Nicht einmal aufzuschreien vermochten sie darob, doch überkamen sie Ängste, die schlimmer waren als Todesangst. Es war etwas Unausgesprochenes – etwas, das alle Welt unausgesprochen läßt, denn wer will schon seine eigene Niederlage erkennen?
    Sie waren besiegt, hatten das Spiel verloren, wurden beiseite gekehrt. Es wurde nicht weniger tragisch dadurch, daß es so gewöhnlich war, mit Löhnen zu tun hatte, mit Anschreibbeträgen beim Kaufmann und mit der Miete. Sie hatten von Freiheit geträumt, von einer Chance, sich umzutun und etwas zu lernen, anständig und sauber zu leben, ihr Kind zu einem tüchtigen Menschen heranwachsen zu sehen. Und nun war das alles aus – es würde nie so werden. Noch sechs Jahre Plackerei lagen vor ihnen, ehe eine kleine Entlastung in Aussicht stand, nämlich das Ende der Ratenzahlungen für das Haus, aber wie grausam klar war ihnen, daß sie dieses Leben nicht noch sechs Jahre durchhalten würden! Sie waren erledigt, es ging abwärts mit ihnen, und es gab keinen Ausweg, keine Hoffnung, denn was Hilfe für sie betraf, hätte die Riesenstadt, in der sie lebten, ebensogut das weite Meer, eine Wildnis, eine Wüste oder eine Totengruft sein können. Dieses Gefühl beschlich Ona oft, wenn sie in der Nacht durch irgend etwas wach gemacht wurde; sie lag dann da, fürchtete sich vor dem eigenen Herzschlag und sah vor sich die blutunterlaufenen Augen jener Lebensangst, die so alt ist wie die Menschheit. Einmal schrie sie laut auf und weckte dadurch Jurgis, der müde war und gereizt reagierte. Hinfort nahm sie sich zusammen und weinte nur noch lautlos. Ihrer beider Stimmungen hatten jetzt so selten Gleichklang! Es war, als lägen ihre Hoffnungen in getrennten Gräbern begraben.
    Als Mann hatte Jurgis seine eigenen Sorgen. Ihn verfolgte ein anderer Dämon. Er sprach nie darüber und hätte das auch keinem anderen erlaubt – gestand er es sich doch nicht einmal selber ein. Aber der Kampf dagegen erforderte seine ganze Kraft, und leider reichte die nicht immer aus. Jurgis hatte den Alkohol entdeckt.
    Tag für Tag, Woche für Woche arbeitete er in dem dampfenden Höllenschlund – bis schließlich kein Organ seines Körpers mehr ohne Schmerzen Dienst tat, bis es Tag und Nacht in seinem Kopf dröhnte wie das Tosen der Meeresbrandung und bis die Häuser auf der Straße vor seinen Augen schwankten. Und von dem endlosen Schrecken alles dessen boten sich Befreiung und Ruhe – wenn er trank! Da konnte er die Schmerzen vergessen, konnte die Last abschütteln; er sah wieder klar, war wieder Herr über sein Hirn, seine Gedanken, seinen Willen. Sein verschüttetes Ich regte sich, und er konnte wieder lachen und mit seinen Freunden Witze reißen – er war wieder ein Mann und Meister seines Lebens.
    Es fiel Jurgis nicht leicht, über zwei oder drei Gläser hinauszugehen. Beim ersten konnte er dazu eine kostenlose Mahlzeit essen und sich einreden, daß er so Geld spare; beim zweiten konnte er abermals etwas essen – aber danach war er satt, und sich dann einen Schnaps zu leisten war eine unerhörte Verschwendung, gegen die sich all die uralten Instinkte seiner vom Hunger verfolgten Klasse sperrten. Eines Tages jedoch wagte er den Sprung, vertrank alles, was er in den Taschen hatte, und ging halb »angeteert«, wie die Männer hier sagten, nach Hause. Er war so glücklich wie schon seit einem Jahr nicht mehr, doch da er wußte, daß dieses Hochgefühl nicht anhalten konnte, war er zugleich auch bitterböse auf jene, die es ihm zerstören würden, auf die ganze Welt und auf sein Leben; und dann wieder, mehr unterschwellig, war ihm elend zumute, weil er sich vor sich selbst schämte. Später, als er die Verzweiflung seiner Familie sah und nachrechnete, wieviel Geld er vertrunken hatte, kamen ihm die Tränen, und er begann seinen langen Kampf mit dem Dämon.
    Es war ein Kampf, der kein Ende nahm, kein Ende nehmen konnte. Dessen wurde sich Jurgis allerdings nicht recht bewußt; es blieb ihm ja nicht viel Zeit, über sich nachzudenken. Er wußte nur, daß er ständig dagegen anzugehen hatte. So von Elend und Verzweiflung zermürbt, wie er war, bedeutete es für ihn schon eine Folter, nur die Straße langzugehen. An der nächsten Kreuzung war bestimmt eine Kneipe – vielleicht

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