Der Dschungel
lagen bereits fünf Zentimeter Schnee. Jurgis wollte auf die Frauen warten, ging dann jedoch zum Aufwärmen in eine Kneipe, rannte nach zwei Gläsern aber wieder hinaus und nach Hause, um dem Dämon zu entfliehen. Dort legte er sich zu einem kurzen Nickerchen hin, bis die Frauen kommen würden, schlief aber sofort fest ein. Als er die Augen wieder aufschlug, war es mitten in einem Alptraum, und er merkte, daß Elzbieta ihn rüttelte und anschrie. Zuerst begriff er gar nicht, was sie sagte – daß Ona nicht heimgekommen sei. Er fragte nach der Uhr. Schon Morgen, Zeit zum Aufstehen. Ona sei die Nacht über nicht zu Hause gewesen! Und es wär bitter kalt, der Schnee läge fußhoch.
Jurgis fuhr mit einem Ruck hoch. Marija weinte vor Angst, und die Kinder wimmerten zur Gesellschaft mit, besonders Stanislovas mit seinem Horror vor dem Schnee. Jurgis brauchte nichts weiter anzuziehen als Schuhe und Jacke, und eine halbe Minute später war er schon zur Tür hinaus. Dann wurde ihm jedoch klar, daß Beeilung ihm gar nichts nutzte, denn er wußte ja nicht, wo er suchen sollte. Es herrschte noch finstere Nacht, und dicke Schneeflocken wirbelten herab; alles war so still, daß man sie fallen hören konnte. In den paar Sekunden, die er unschlüssig dastand, wurde er vollko mm en weiß.
Er lief los in Richtung Yards, wobei er unterwegs in jede Kneipe hineinschaute, die schon aufhatte. Ona konnten auf dem Heimweg die Kräfte verlassen haben. Vielleicht war ihr auch etwas an den Maschinen zugestoßen, und als er zu dem Gebäude kam, wo sie arbeitete, erkundigte er sich dort bei einem Nachtwächter. Nein, sagte der, seines Wissens habe es keinen Unfall gegeben. In der schon offenen Zeitkontrolle wurde ihm die Auskunft gegeben, Mrs. Rudkus’ Karte sei gestern abend zurückgekommen, also habe seine Frau das Werk verlassen.
Danach konnte er nichts weiter tun, als warten, und er stapfte im Schnee auf und ab, um sich warm zu halten. In den Yards herrschte schon reger Betrieb: Ganz hinten wurde Vieh ausgeladen, und auf der anderen Straßenseite mühten sich in der Dunkelheit die Fleischträger und schleppten zwei Zentner schwere Rinderviertel in die Kühlwagen. Noch vor dem ersten Tagesschimmer kamen die Massen der Arbeiter an; fröstelnd und mit schlenkernden Essenträgern eilten sie vorbei. Jurgis baute sich neben dem Fenster der Zeitkontrolle auf, denn dort war am meisten Licht; in dem dichten Schneegestöber mußte er scharf aufpassen, um Ona nicht zu übersehen.
Es wurde sieben, die Stunde, in der die große Yard-Maschine in Gang kam. Jurgis hätte jetzt an seinem Platz in der Düngerfabrik sein müssen, statt dessen wartete er hier unter Angstqualen auf Ona. Es war schon eine Viertelstunde nach Arbeitsbeginn, als er aus dem Schneetreiben eine Gestalt auftauchen sah, und mit einem Aufschrei stürzte er auf sie zu. Es war Ona! Sie kam gerannt, und als sie ihn erkannte, wankte sie und fiel ihm halb in die ausgestreckten Arme.
»Was war denn?« rief er aufgeregt. »Wo bist du gewesen?«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie wieder genügend Atem zum Antworten hatte. »Ich konnte nicht nach Hause kommen«, stieß sie hervor. »Der Schnee – es fuhr keine Straßenbahn.«
»Aber wo bist du geblieben?« fragte er.
»Ich mußte bei einer Kollegin übernachten«, keuchte sie. »Bei Jadvyga.«
Jurgis holte tief Luft. Doch dann bemerkte er, daß sie schluchzte und bebte – wie bei jenen Nervenanfallen, die er so fürchtete. »Was ist denn?« rief er. »Was ist passiert?«
»Ach, Jurgis, ich hatte solche Angst!« Sie klammerte sich wild an ihn. »Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht!«
Sie standen nahe dem Fenster der Zeitkontrolle, und die Leute starrten sie bereits an. Jurgis führte Ona zur Seite. »Aber weshalb denn?« fragte er verwirrt.
»Ich habe Angst gehabt – einfach Angst!« schluchzte Ona. »Du hattest doch keine Ahnung, wo ich war, und ich wußte nicht, was du machen würdest. Ich wollte ja nach Hause, aber zum Laufen war ich zu müde. Ach, Jurgis, Jurgis!«
Er war so froh, sie wiederzuhaben, daß er keinen anderen klaren Gedanken fassen konnte. Ihr übermäßiges Erregtsein machte ihn nicht stutzig, ebensowenig ihre Angst und ihre verworrenen Beteuerungen. Er ließ sie sich ausweinen, und da es mittlerweile schon auf acht Uhr zuging und sie einen weiteren Stundenlohn verlieren würden, wenn sie sich nicht beeilten, nahm er dann am Fabriktor Abschied von Ona mit ihrem blassen Gesicht und von Furcht erfüllten
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