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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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Augen.
     
    Danach war kurze Zeit Ruhe. Weihnachten stand vor der Tür, und da der Schnee und die durchdringende Kälte anhielten, brachte Jurgis seine Frau Morgen für Morgen zur Arbeit, stampfte, sie halb tragend, mit ihr durch die Dunkelheit, bis dann eines Nachts das Ende kam.
    Es waren nur noch drei Tage bis zum Fest. Gegen Mitternacht kamen Marija und Elzbieta nach Hause und schrien bestürzt auf, als sie sahen, daß Ona noch nicht da war. Sie waren mit ihr verabredet gewesen und nach vergeblichem Warten am Treffpunkt zu Onas Arbeitsstelle gegangen. Dort hatte man ihnen gesagt, die Schinkeneinnäherinnen hätten vor einer Stunde Feierabend gemacht und wären schon alle fort. In dieser Nacht schneite es nicht und herrschte auch keine besondere Kälte – und trotzdem war Ona nicht nach Hause gekommen! Diesmal mußte etwas Ernstes sein.
    Sie weckten Jurgis. Er setzte sich auf und hörte sich mürrisch an, was sie berichteten. Sie werde eben wieder zu Jadvyga gegangen sein, sagte er; die wohne nur zwei Straßen von den Yards ab, und vielleicht sei Ona zu müde gewesen. Zugestoßen sein könne ihr nichts – und selbst wenn, vor dem Morgen lasse sich doch nichts unternehmen. Damit drehte Jurgis sich auf die andere Seite und schnarchte schon wieder, noch ehe die beiden die Tür zugemacht hatten.
    Am Morgen aber war er fast eine Stunde eher auf als sonst und bereits unterwegs. Jadvyga Marcinkus lebte mit ihrer Mutter und ihren Schwestern in einer aus einem einzigen Raum bestehenden Kellerwohnung auf der anderen Seite der Yards, hinter der Halsted Street, denn Mykolas hatte vor kurzem durch Blutvergiftung eine Hand verloren, und ihre Heirat war auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Ihre Tür ging auf einen engen Hinterhof hinaus, und Jurgis sah Licht im Fenster und hörte im Vorbeigehen etwas auf dem Herd brutzeln. Als er anklopfte, dachte er schon, Ona würde öffnen.
    Statt dessen kam eine von Jadvygas kleinen Schwestern und schaute durch den Türspalt.
    »Wo ist Ona?« fragte er.
    »Ona?« Ratlos starrte ihn das Kind an.
    »Ja«, sagte Jurgis. »Ist sie denn nicht hier?«
    »Nein«, antwortete das Kind und versetzte Jurgis damit in Angst und Schrecken. Einen Augenblick später erschien Jadvyga und spähte über den Kopf der Kleinen hinweg. Als sie Jurgis erkannte, trat sie rasch aus seinem Blickfeld, denn sie war noch nicht ganz angezogen. Jurgis müsse entschuldigen, begann sie, ihre Mutter sei sehr krank ...
    »Ona ist nicht hier?« unterbrach er sie. Er war so beunruhigt, daß er sie nicht ausreden lassen konnte.
    »Aber nein«, erklärte Jadvyga. »Wie kommst du darauf, daß sie hier sein könnte? Hat sie gesagt, sie käme her?«
    »Das nicht«, gab er zurück. »Aber sie ist nicht nach Hause gekommen, und da dachte ich, sie wäre bei dir, so wie neulich.«
    »Wie neulich?«
    »Ja, als sie hier über Nacht geblieben ist.«
    »Das muß ein Irrtum sein«, antwortete sie. »Ona ist hier nie über Nacht geblieben.«
    Er begriff noch nicht ganz. »Doch, doch«, rief er, »vor etwa drei Wochen, Jadvyga! Sie hat es mir ja selbst erzählt – die Nacht, als es so schneite und sie nicht nach Hause konnte.«
    »Das muß ein Irrtum sein«, erklärte Jadvyga abermals. »Hier war sie jedenfalls nicht.«
    Er wich nicht von der Schwelle, und Jadvyga in ihrer Besorgnis – sie hatte Ona gern – machte die Tür ganz auf, während sie sich mit der anderen Hand die Jacke zuhielt. »Hast du dich auch bestimmt nicht verhört?« rief sie. »Sie muß woanders gemeint haben. Sie ...«
    »Sie sagte, hier«, beharrte Jurgis. »Sie hat mir alles von dir erzählt, wie es dir geht und was du gesagt hast. Du warst doch nicht weg?«
    »Aber nein!« beteuerte sie – und dann kam eine grämliche Stimme: »Jadvyga, mach die Tür zu, sonst erkältet sich das Kleine!«
    Jurgis blieb noch eine halbe Minute stehen und stammelte seine Ratlosigkeit durch den nur fingerbreiten Türspalt, und da es wirklich nichts mehr zu sagen gab, entschuldigte er sich und ging.
    Halb benommen lief er weiter, ohne zu merken, wohin. Ona hatte ihn hintergangen! Sie hatte ihn belogen! Was konnte das bedeuten? Wo war sie gewesen? Und wo war sie jetzt? Er konnte es nicht fassen – geschweige denn es sich erklären, doch stürmten hundert wilde Vermutungen auf ihn ein, und es überkam ihn ein Gefühl drohenden Unheils.
    Da er nichts weiter tun konnte, lief er zurück zur Zeitkontrolle und bezog wieder seinen Beobachtungsposten. Er wartete bis fast eine Stunde nach

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