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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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schauderte ihm.
    Denn Ona verfiel zusehends. Zum einen hatte sie einen Husten, der jenem glich, an dem der alte Antanas dahingesiecht war. Geholt hatte sie ihn sich an jenem Unglücksmorgen, als sie von der geldgierigen Verkehrsgesellschaft aus der Straßenbahn hinaus in den Regen gejagt worden war; anfangs hatte sie nur gehüstelt; jetzt aber waren es schon richtige Anfälle, von denen sie nachts aufwachte. Noch schlimmer war die schreckliche Nervosität, an der sie litt; sie wurde von entsetzlichen Kopfschmerzen und grundlosen Weinkrämpfen geplagt, und manchmal kam sie abends zitternd und stöhnend nach Hause, warf sich aufs Bett und brach in Tränen aus. Mehrere Male war sie völlig außer sich und hysterisch, und Jurgis wurde dann halb verrückt vor Angst. Elzbieta erklärte ihm, man könne da nichts machen, das hänge mit der Schwangerschaft zusammen, doch das überzeugte ihn nicht recht, und er drang in sie, ihm doch zu sagen, was sie wirklich habe. Sie sei ja früher nicht so gewesen, argumentierte er, und das jetzt wäre doch unnormal und nicht geheuer. Es sei das Leben, das sie führen muß, vor allem aber diese verfluchte Arbeit, die mache sie langsam kaputt. Sie sei dafür nicht geschaffen – keine Frau sei das, keine Frau dürfte solche Arbeit machen; wenn die Welt sie nicht anders am Leben erhalten kann, dann solle sie sie doch lieber gleich umbringen, dann hätte das wenigstens ein Ende. Sie dürften nicht heiraten und Kinder kriegen; überhaupt sollten Arbeiter nicht heiraten – hätte er gewußt, wie Frauen sind, hätte er sich eher die Augen ausstechen lassen, als zu heiraten. In diesem Stil redete er weiter, wurde selber bald hysterisch, was bei einem großen, starken Mann gar nicht mit anzusehen war. Ona riß sich zusammen, warf sich in seine Arme und bat ihn, doch aufzuhören und still zu sein, es würde ja wieder besser mit ihr, und alles werde wieder gut. So schluchzte sie ihren Kummer an seiner Schulter aus, während er sie mit den hilflosen Blicken eines waidwunden Wildes ansah, das unsichtbaren Jägern ausgeliefert ist.

15
    Diese rätselhafte Sache ging schon seit dem Sommer, und jedesmal versprach Ona ihm mit von Furcht erfüllter Stimme, es werde nicht wieder vorkommen – doch vergeblich. Von Anfall zu Anfall bekam Jurgis größere Angst; er neigte immer mehr dazu, Elzbietas tröstenden Worten zu mißtrauen und zu argwöhnen, daß hinter all dem etwas Schreckliches stecke, das man ihn nicht wissen lassen wollte. Ein-oder zweimal während dieser Ausbrüche fing er Onas Blick auf; er kam ihm vor wie der eines gehetzten Tieres, und er hörte sie mitten in ihrem Weinkrampf hin und wieder Worte der Angst und Verzweiflung stammeln. Nur weil er selber so abgestumpft und niedergeschlagen war, sorgte er sich nicht weiter deswegen, sondern bloß immer dann, wenn er es direkt sah und hörte – er vegetierte dahin wie ein empfindungsloses Lasttier, war sich immer nur des Augenblicks bewußt.
    Der Winter nahte wieder, bedrohlicher und grausamer denn je. Es war Oktober, und der Hochbetrieb für Weihnachten begann. Bis spät in die Nacht hinein liefen die Maschinen in den Yards, und Marija, Elzbieta und Ona als deren Rädchen arbeiteten jetzt fünfzehn bis sechzehn Stunden am Tag. Es blieb ihnen nichts anderes übrig; wollten sie ihre Stellen behalten, mußten sie schaffen, was an Arbeit anfiel. Außerdem besserte es ihr Einkommen ein bißchen auf, und so wankten sie unter der Last weiter. Sie fingen jeden Morgen früh um sieben an, aßen um zwölf ihr mitgebrachtes Mittagbrot und arbeiteten dann durch bis zehn oder elf Uhr nachts, ohne zwischendurch noch mal einen Happen zu sich zu nehmen. Jurgis wollte auf sie warten, um sie nach Hause zu bringen, aber das ließen sie nicht zu; die Düngerfabrik machte keine Überstunden, und da hätte er nur in einer Kneipe warten können. So stolperte jede von ihnen hinaus in die Dunkelheit zu der Ecke, wo sie sich trafen, oder stieg, wenn die anderen schon fort waren, in die Straßenbahn und kämpfte mühsam dagegen an, nicht einzuschlafen. Zu Hause angekommen, waren sie immer zu müde, um zu essen oder sich auszuziehen; noch mit den Schuhen an ließen sie sich ins Bett fallen und lagen da wie erschlagen. Hielten sie nicht durch, war es aus mit ihnen, das stand fest; schafften sie es jedoch, würden sie vielleicht genügend Kohlen für den Winter kaufen können.
    Ende November, kurz vorm Erntedanktag, kam ein Blizzard. Er setzte am Nachmittag ein, und am Abend

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