Der Dschungel
sieben und ging dann hinunter in den Saal, wo Ona arbeitete, um sich bei der Aufseherin zu erkundigen. Die war, wie sich herausstellte, noch nicht da; alle aus der Innenstadt kommenden Straßenbahnen fuhren seit gestern nacht nicht mehr, denn im Elektrizitätswerk hatte es einen Ausfall gegeben. Die Schinkeneinnäherinnen waren aber, unter anderer Aufsicht, schon fleißig bei der Arbeit. Das Mädchen, das Jurgis Auskunft gab, hatte sehr zu tun und schaute sich beim Sprechen um, ob sie beobachtet wurden. Dann kam ein Arbeiter heran, der einen Karren schob; er kannte Jurgis als den Mann von Ona und fragte, was denn los sei. »Vielleicht war was mit der Bahn«, meinte er. »Kann ja sein, daß sie in der City war.«
»Nein«, erklärte Jurgis, »da fährt sie nie hin.«
»Dann eben nicht«, sagte der Arbeiter.
Jurgis kam es vor, als ob er dabei einen schnellen Blick mit dem Mädchen tauschte, und er fragte sofort: »Was weißt du darüber?«
Aber der Mann hatte bemerkt, daß ein Vorarbeiter herübersah, und er schob seinen Karren weiter. »Gar nichts«, sagte er über die Schulter hinweg. »Woher soll ich auch wissen, wo deine Frau hingeht?«
Jurgis lief wieder hinaus und schritt vor dem Gebäude auf und ab. Den ganzen Vormittag blieb er dort und vergaß vollständig seine Arbeit. Gegen Mittag ging er zur Polizei, um dort nachzufragen, kam dann zurück und bezog angstvoll wieder seinen Posten. Am Nachmittag machte er sich schließlich auf den Heimweg.
Er lief die Ashland Avenue hinunter. Die Straßenbahnen verkehrten wieder, und mehrere, bis zu den Trittbrettern voller Menschen, fuhren an ihm vorbei. Bei ihrem Anblick mußte Jurgis an die spöttische Bemerkung des Arbeiters denken, und unwillkürlich beobachtete er die Wagen – mit dem Ergebnis, daß er plötzlich einen überraschten Ausruf tat und wie angewurzelt stehenblieb.
Dann stürmte er los. Bis zur nächsten Querstraße hastete er der Bahn hinterher und blieb nur wenig zurück. Dieser verschossene schwarze Hut mit der zerdrückten roten Stoffblume – vielleicht war es gar nicht der von Ona, aber die Wahrscheinlichkeit sprach dagegen. Bald würde er es genau wissen, denn zwei Häuserblocks weiter müßte sie aussteigen. Er verlangsamte sein Tempo und ließ der Bahn Vorsprung.
Sie stieg aus, und sobald sie in der Seitenstraße außer Sicht war, setzte sich Jurgis wieder in Trab. Jetzt war sein Argwohn geweckt, und er schämte sich nicht, ihr nachzuspionieren. Er sah sie um die Ecke kurz vor ihrem Haus biegen und dann, nachdem er einen Spurt eingelegt hatte, die Vorstufen zu ihrer Tür hinaufgehen. Darauf machte er kehrt und lief fünf Minuten lang auf und ab, die Hände zu Fäusten geballt, die Lippen zusammengepreßt und innerlich völlig aufgewühlt.
Als er die Tür öffnete, erblickte er Elzbieta, die ebenfalls nach Ona gesucht hatte und wieder heimgekommen war. Sie lief auf Zehenspitzen und legte den Finger auf die Lippen. Jurgis wartete, bis sie dicht vor ihm stand.
»Sei ganz leise«, flüsterte sie hastig.
»Was ist los?« fragte er.
»Ona schläft«, antwortete sie mit verhaltenem Atem. »Ich fürchte, sie war nicht mehr bei Sinnen, Jurgis. Sie ist die ganze Nacht draußen umhergeirrt, und ich hab’s eben erst geschafft, sie ein bißchen zu beruhigen.«
»Wann ist sie denn gekommen?« fragte er.
»Bald nachdem du heute früh gegangen warst.«
»War sie inzwischen noch mal weg?«
»Nein, natürlich nicht. Sie ist so matt, Jurgis, so ...«
Da knirschte er mit den Zähnen. »Du lügst mich an«, sagte er.
Elzbieta erbleichte vor Schreck. »Wie ... wie meinst du das?« stotterte sie.
Doch Jurgis gab ihr keine Antwort. Er schob sie beiseite, schritt zur Schlafzimmertür und öffnete sie.
Ona saß auf dem Bett. Als er hereinkam, drehte sie sich zu ihm um und sah ihn an mit angstgeweiteten Augen. Er schloß die Tür vor Elzbieta und trat auf seine Frau zu. »Wo bist du gewesen?« heischte er.
Sie hatte die Hände im Schoß verkrampft, und er sah, daß ihr Gesicht kalkweiß und schmerzverzerrt war. Sie mußte erst ein paarmal nach Luft ringen, ehe sie ihm antworten konnte, und begann dann leise und hastig: »Jurgis, ich ... ich scheine nicht ganz bei mir gewesen zu sein. Ich bin gestern abend losgegangen und konnte und konnte nicht nach Hause finden. Ich bin gelaufen, immerzu, die ganze Nacht durch, glaube ich, und ... und ... erst heute früh hier angelangt.«
»Du brauchst doch Ruhe«, sagte er hart. »Warum bist du dann noch mal
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