Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
Grünblatt.
Vorsichtig zog Milo am Ornat seines Meisters. Gindawell kippte zur Seite weg und riss dabei einen Stuhl um, doch die Haarforke in seiner Hand verhinderte, dass er vollends zu Boden stürzte. Leblos hing sein Körper an der Seite des Ratstisches. Auf der Höhe seines Herzens prangte ein schwarz verkohltes Loch in seinem weißen Hemd.
Milo versuchte, Gindawells Körper wieder aufzurichten, um ihm diese demütigende Position zu ersparen, doch plötzlich packte ihn die Hand seines Meisters am Arm und drückte zu. In Panik versuchte Milo, dem Griff zu entkommen, doch die Umklammerung wurde nur noch stärker. Überwältigende Furcht lähmte ihn für einen Moment, doch dann kroch er auf Gindawell zu. Mit zwei Fingern fühlte er den Puls am Hals des Meisters, doch er war nicht zu erspüren. Dann bewegten sich die Lippen des scheinbar Toten. Milo kroch weiter an ihn heran und lauschte dem Flüsterton.
»Ceeth mùe fammamè, such in Zargenfels.«
Dann hauchte Meister Gindawell seinen letzten Atem aus, und sein Körper erschlaffte.
Wie versteinert hockte Milo auf dem blank polierten Fußboden des Ratssaals und starrte auf einen kleinen Kirschkern vor sich. Seine Augen füllten sich mit Tränen, doch er konnte weder schreien noch laut weinen.
Keines der Mitglieder des Rates war mehr am Leben, und keiner von ihnen würde je herausfinden, warum. Für Milo war das alleswie ein schrecklicher Alptraum. Es schien, als hätte sich ein dunkler Schatten aus dem Nichts gebildet, hätte alles um sich herum verschlungen und war genauso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war.
Milo wartete darauf, aufzuwachen, doch stattdessen schreckte er plötzlich hoch, weil eine der unteren Türen im Schrank der großen Kommode, die an der gegenüberliegenden Wand stand, mit Wucht aufschlug. Kurz darauf wurden ein paar schmutziger Halblingsfüße aus dem Schrank hervorgestreckt – Füße, die Milo nur zu gut kannte, weil sie schon oft auf seinen Schultern geruht hatten, in sein Gesicht gestreckt wurden oder in seinen Hintern getreten hatten.
»Bonne, was hast du hier zu suchen, du Idiot?«, entfuhr es Milo, bevor sich sein Bruder überhaupt aus seinem Versteck befreit oder etwas gesagt hatte.
Bonne schien ihn nicht zu hören und antwortet auch nicht. Tränenüberströmt und mit leerem Blick schlurfte er hinten um den Ratstisch herum. Milo beobachtet ihn, wie er einen Geist beobachtet hätte.
Kurz vor seinem Bruder kam Bonne zum Stehen. Er bückte sich, hob etwas vom Boden auf und präsentierte Milo den Kirschkern in der hohlen Hand.
»Ich wollte ihn nur in den Ausschnitt von Frau Grünblatt schnippen«, wimmerte er. »Er flog schon, als sie sich zur Seite drehte. Der Kern traf Bürgermeister Butterblums am Auge, und dann …« Bonne brach den Satz ab und begann erneut zu weinen.
»Es ist nicht deine Schuld«, versuchte Milo, ihn zu trösten. »Irgendetwas anderes geht hier vor, und Meister Gindawell wusste davon. Nun ist er tot.«
»Was sollen wir jetzt tun? Was sollen wir Vater erzählen?«
Milo machte ein ernstes Gesicht. Etwas, dass einem Halbling nicht gerade in de Wiege gelegt wurde.
»Wir werden gar nichts sagen«, verkündete er. »Man würde uns ohnehin nicht glauben.«
»Was willst du dann tun?«
»Wir werden von hier verschwinden«, erklärte Milo. »Wir gehen zum Krähenturm und bitten Tante Rubinia um Hilfe. Lauf los und hol unsere Sachen und Proviant für zwei bis drei Tage. Beeile dich! Solange es regnet und stürmt, wird keiner herkommen und sehen, was passiert ist.«
»Und was machst du in der Zwischenzeit?«, fragte Bonne, noch immer den Tränen nahe. »Was soll ich sagen, wenn Vater mich fragt, wofür ich all die Sachen brauche. Er wird wissen wollen, wo ich bei dem Sturm hin will.«
»Du sagst gar nichts. Lass dir einfach nichts anmerken. Du wirst das schon schaffen. Stell dir einfach vor, es ist eine Mutprobe. Wenn du fertig bist, komm zum Tempel. Ich muss noch einmal ins Haus von Meister Gindawell. Wir brauchen seine Unterlagen. Bevor der Sturm aufgehört hat, müssen wir weg sein.«
4. DORN
»Das ist alles meine Schuld«, stöhnte der große grobschlächtig aussehende Mann seiner ebenso grazil wirkenden wie auch bildhübschen Begleiterin zu. »Ohne mich wärst du bestimmt besser dran, Senetha.«
Die junge Frau schien ihm gar nicht zugehört zu haben. Sie stand vor dem alten schmiedeeisernen Tor und tastete um das Schloss herum, als wenn es sich in einer Glaskugel befände und sie den
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