Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
weiß, dass wir hier sind. Wir wissen ja nicht einmal selber, wo wir sind.«
Rubinia wagte einen Blick hinaus. Vor ihr lag eine Schlucht, ähnlich der Seufzerschlucht, aus der sie kamen. »Das muss die Krähenschlucht sein. Oda, weißt du, was das heißt? Wir sind in der Nähe des Krähenturms! Wir sind gerettet! Wenn wir eine Möglichkeit zum Aufstieg finden, müssen wir nur eine Viertelmeile nach Süden und haben es geschafft. Meister Othman wird uns helfen, und auch den anderen in der Seufzerschlucht. Wir könnten sie mit seiner Unterstützung durch den Tunnel hierherbringen. Auch wenn er nicht alle im Krähenturm unterbringen kann, die Krähenschlucht bietet ebenfalls guten Schutz, und in der Nähe von Othman fühle ich mich um einiges besser. Außerdem sind im Turm genügend Vorräte, auf die wir zurückgreifen könnten. Das würde die Laune der anderen bestimmt etwas heben.«
Oda schien kaum etwas von dem zu begreifen, was Rubinia versuchte, ihr zu erklären. Sie starrte weiter in die Schlucht hinein.
Rubinia hielt es nicht länger aus. Sie musste raus aus diesem Spalt. Sie wollte frische Luft atmen, Regen auf der Haut und Sonne im Gesicht spüren. Sie trat ins Freie und legte den Kopf in den Nacken. Es war kalt, leichter Nieselregen benetzte ihr Gesicht, und ihre Augen brannten vom grellen Tageslicht. Kein Gefühlkonnte schöner sein. Einen Moment stand sie da, mit ausgebreiteten Armen, und genoss es.
»Komm endlich her, Oda. Du musst keine Angst haben. Niemand ist hier.«
Oda krabbelte aus ihrem Versteck hervor. Mit großen Augen beobachtete sie die steilen Hänge der Schlucht. Sie drehte sich mehrfach um die eigene Achse und suchte nach etwas.
»Er ist nicht hier!«, schrie sie plötzlich. »Wo bist du? Du hast mir versprochen, du würdest mich mit offenen Armen aufnehmen.«
Sie brach zusammen und begann zu weinen. Erschrocken half Rubinia ihr auf, stützte sie und brachte sie zu einem niedrigen Felsen, auf dem sich Oda ausruhen und beruhigen konnte. Sicher lag Odas Verhalten an der Anspannung der letzten Tage. Sie musste hungrig und durstig sein und völlig erschöpft. Und nun diese überraschende Rettung. Vielleicht hatte sie Wahnvorstellungen oder einen Nervenzusammenbruch, immerhin war sie selbst nicht weit von einem entfernt gewesen.
Mit sanfter Stimme redete sie auf Oda ein, aber das Halblingsmädchen wollte sich nicht beruhigen lassen, weder durch Zuspruch noch durch sanfte Berührungen. Sie weinte, verkrampfte sich und nahm von Rubinia überhaupt keine Notiz. Rubinia war hin und her gerissen. Zum einen war sie überglücklich, dem tödlichen Schlund unter der Erde entkommen zu sein, zum anderen verstand sie nicht, was in ihrer Freundin vor sich ging. Sie entschied, sich nach einem möglichen Aufstieg umzusehen. Oda hatte sich weinend zusammengerollt – hier würde Rubinia vorerst nichts ausrichten können.
Die Felswände waren steil und kaum von Vegetation begrünt. Die Felsvorsprünge, die Rubinia fand, lagen zu hoch und waren zu weit voneinander entfernt, um sie nutzen zu können. Sie drehte sich so lange im Kreis und inspizierte die kargen Felswände, bis ihr schwindelig wurde. Sie bemerkte erst, dass Oda aufgehört hatte zu weinen, als diese neben sie trat. Anstatt niedergeschlagen, wirktedie junge Priesterin jetzt wieder vollkommen apathisch. Sie starrte erst mit offenem Mund zum Fuß der Felshänge, dann ließ sie ihren Blick ziellos umherwandern.
»Wir müssen weiter östlich«, sagte Rubinia. »Ohne Seile schaffen wir den Aufstieg hier niemals. Mit etwas Glück sieht es am anderen Ende der Schlucht besser aus. Ich konnte vom Krähenturm aus erkennen, dass im Osten einige Bäume vom Wind umgestoßen wurden und halb in die Schlucht hingen.«
Oda nahm den Vorschlag mit einem zustimmenden Brummen hin, suchte aber weiter den Boden vor sich ab.
»Oda, wonach suchst du denn?«, erkundigte sich Rubinia. »Ein Seil wird hier sicherlich nicht herumliegen.«
Sie wollte gerade losmarschieren in der Hoffnung, dass ihr die junge Priesterin folgte, da bemerkte sie das schwache Funkeln zwischen zwei größeren Steinen.
»Das gibt es ja gar nicht! Wie kommt der denn hierher?« Rubinia bückte sich und zog zwischen den Steinen einen blassblau funkelnden Kristall hervor. »Der sieht genauso aus wie die, die ich für Meister Othman im Wald verteile. Vielleicht wurde er von jemandem gefunden und hier wieder verloren. Oder eine Elster hat ihn sich stibitzt und über der Schlucht aus dem Schnabel
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