Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
fallen lassen.«
»Ich habe ihn«, flüsterte Oda.
»Du hast was?«, fragte Rubinia verwirrt.
Es bedurfte keiner Antwort von Oda, denn diese lag genau vor Rubinia. In der tristen grauen Felswand war plötzlich ein Durchgang. Er sah aus wie ein natürlicher Spalt im Gestein, den man nachträglich erweitert hatte, und dessen Seiten mit Lehm verfugt worden waren, um zu verhindern, dass Steine und Sand herausbrachen. Rubinia war sich sicher, dass der Durchgang noch vor wenigen Augenblicken nicht dort gewesen war. Entweder war er durch eine Illusion geschützt gewesen, oder er war gerade auf magische Weise entstanden.
»Geh dort nicht hinein!«, rief Rubinia. »Du weißt nicht, ob dasnicht eine Falle ist, oder ob der Gang sich nicht gleich wieder schließt. Lass uns lieber warten, was passiert.«
Oda hörte nicht, sondern betrat den finsteren Tunnel. Gerade als sie in die Dunkelheit eintauchte, flammte direkt vor ihr eine Fackel auf, die an der Wand im Lehm steckte. Einige Schritte weiter entzündete sich die nächste wie von Geisterhand.
Das alles trug die Handschrift von Meister Othman. Der Kristall, die Spielerei mit den Fackeln und die Illusion waren eindeutig das Werk eines Magiers. Rubinia schämte sich, dass sie in Gedanken die Forschungen des Meisters immer als Gauklertricks abgetan hatte, und das, obwohl ihr eines dieser magischen Utensilien gerade erst das Leben gerettet hatte. Zumindest musste Othman von diesem Tunnel wissen und hatte ihn nicht zuschütten lassen. Das allein reichte Rubinia, um ihre Befürchtungen zu zerstreuen und Oda zu folgen. Zögerlich betrat sie den Tunnel. Sofort erkannte sie die Abdrücke von kleinen Händen in dem Lehm an der Wand. Sie stammten eindeutig von Tunnelgnomen. Hatten sie dies alles hier geschaffen?
Mit jedem Schritt, den Oda tat, gab das unterirdische Gewölbe etwas mehr von sich preis. Rubinia bemühte sich, zu der jungen Halblingspriesterin aufzuschließen, doch es gelang ihr erst, als Oda vor einer Tür stehen blieb. Es sah aus, als ob Oda mit ihr flüsterte oder mit jemandem, der dahinter stand. Die Tür war aus Holz, mit schwarzen Scharnieren und einem schmucklosen Griff. Sie lag etwas erhöht in der Wand, während der Gang weiter geradeaus führte.
»Ist dahinter etwas zu hören?«, fragte Rubinia.
Oda schüttelte den Kopf. »Nein, nichts, aber ich glaube, dass hinter der Tür eine Treppe hinaufführt zum Krähenturm.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich war lange Zeit bei den Zwergen, hast du das vergessen? Die meisten Erinnerungen sind nicht sonderlich schön, aber man lernt bei den Bärtigen zumindest etwas über das Leben unter der Erde: Was ein Luftzug zu bedeuten hat, wie unterschiedlich dasGeräusch klingt, wenn man gegen eine Tür klopft, hinter der nur eine kleine Kammer ist im Gegensatz zu einer großen Halle. Hinter dieser Tür ist eine Treppe, da bin ich mir sicher.«
»Worauf warten wir dann? Öffne sie.«
Oda griff nach der dunklen Klinke, drückte sie herunter und zog die Tür auf. »Du solltest besser vorgehen. Meister Othman erkennt mich vielleicht nicht und verwandelt mich in einen Frosch.«
»Das würde er bestimmt nicht tun«, lachte Rubinia. »Er ekelt sich vor Fröschen. In ein Eichhörnchen vielleicht. Aber du hast Recht. Es ist besser, wenn ich vorgehe.«
Gleich hinter der Tür führten einige Stufen nach oben, wo sie sich in der Dunkelheit verloren. Als Rubinia die Schwelle überschritt, entzündeten sich Kerzen, die alle zehn Fuß, jeweils abwechselnd links und rechts, die Wand säumten. Es mussten mehr als hundert sein. Die drei Fuß breite Treppe führte schier endlos hinauf. Jede Stufe war in mühevoller Arbeit mit Steinen und Lehm aufgesetzt worden.
»Es könnte sein, dass sie direkt zum Krähenturm führt«, sagte Rubinia und drehte sich zu Oda um. In diesem Moment schlug die Tür zu. Knirschend schob sich etwas unter die Schwelle. Ein Keil?
»Was soll das, Oda?«, rief Rubinia. »Mach wieder auf.« Sie hämmerte mit den Fäusten gegen das Holz. »Lass mich raus, du machst mir Angst.« Rubinia stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür. Sie war blockiert. »Mach wieder auf!«
Oda antwortete nicht, und es war auch sonst nichts zu hören. Was ging nur in dieser Halblingsfrau vor?
Rubinia schnaubte, halb ärgerlich, halb erschöpft. Sie blickte die endlosen Stufen hinauf. Wenn die Treppe tatsächlich in den Krähenturm führte, würden sich bald alle Geheimnisse aufklären. Mit Füßen so schwer wie Blei begann sie
Weitere Kostenlose Bücher