Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Duft der grünen Papaya

Der Duft der grünen Papaya

Titel: Der Duft der grünen Papaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Benedict
Vom Netzwerk:
Erzählungen
ihrer Mutter entstanden vor Ilis Auge Bilder voller bunter Details, und den Bildern entsprangen lebendige Menschen mit all ihren Sehnsüchten, Ängsten und Unzulänglichkeiten.
    »Im Grunde genommen begann alles am … Ja, ich glaube, es war jener Tag, der eine Entwicklung in Gang setzte, die bis heute, zweiundneunzig Jahre später, ihre Wirkung behalten hat.«
     
    Samoa, 27. Januar 1914
     
    Die Luft zitterte wie unter Donnerschlägen. Seevögel flatterten erschreckt auf, Hunde und Katzen verbargen sich, und die Menschen entlang der Hafenpromenade in Apia unterbrachen ihre Unterhaltungen. Alle Samoaner blickten aufs Meer hinaus, wo das deutsche Schlachtschiff »Scharnhorst« eine Salve nach der anderen zur Seeseite feuerte. Bald war es eingehüllt von weißen Rauchschwaden, doch noch immer blitzten die Mündungen der mächtigen Kanonenrohre im Abstand weniger Sekunden auf.
    Auch im Garten der Gouverneursresidenz verharrten die Menschen, obwohl man von dort keine Sicht auf das Geschehen hatte. Einige Damen hielten sich mit ihren behandschuhten Händen die Ohren zu, andere kniffen bei jedem Schuss kurz die Augen zusammen, aber sie alle rührten sich nicht von der Stelle.
    Die Lippen des Gouverneurs formten stumm Zahlen, einundfünfzig, zweiundfünfzig, dreiundfünfzig, vierundfünfzig, fünfundfünfzig. Bei fünfundfünfzig hielt er inne, lauschte angestrengt, und als nichts mehr zu hören war, glitt ein zufriedenes Lächeln über sein pralles Gesicht. Er schob die Nickelbrille auf der Nase zurecht, wandte sich den Gästen zu und streckte den kugeligen Bauch heraus.
    »Hochverehrte Damen, geschätzte Herren!«, rief er und
hob das Glas. »Auf Seine Majestät, den Kaiser. Er möge lang und eindrucksvoll herrschen.«
    »Auf den Kaiser«, echote es aus dreißig Kehlen zurück.
    Die Stiefelabsätze der beiden anwesenden Offiziere schlugen zusammen, die Herren in Zivil taten es ihnen nach. Die Damen klappten ihre weißen Sonnenschirme zu. Jeder trank einen Schluck Schaumwein. Eine Kapelle aus Samoanern in Uniform spielte die Hymne, und wenn sie auch entsetzlich schräg klang, verzog dennoch keiner eine Miene. Mit dem verklingenden letzten Ton schwollen die Brüste der Männer wieder ab, und die Schirme der Damen klappten wieder auf. Der offizielle Teil des fünfundfünfzigsten kaiserlichen Geburtstages war damit beendet. Die Gäste, die sich während des Saluts und der Hymne instinktiv zusammengerottet hatten, verteilten sich nun wieder auf dem Gartengelände, begleitet von – schrägen – Operettenmelodien.
    Tristan stand ein wenig abseits und beobachtete das Treiben der ausnahmslos weiß gekleideten Menschen. Frau Kruse hielt ein Schwätzchen mit Frau Tiedemann und jammerte über die feuchte Hitze, Frau Janssen beklagte sich bei Frau Hufnagel, dass der entsetzliche Kanonendonner ihr beinahe das Trommelfell zerrissen habe, während Frau Hufnagel dergleichen nicht verspürt hatte. Die Herren wiederum fachsimpelten entweder über die Ernteerträge des letzten Jahres, die geschätzten Ernteerträge des kommenden Jahres oder die zunehmenden Spannungen zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien.
    Tristan war erst vier Monate auf Samoa, und trotzdem kannte er die Rituale und Lieblingsthemen der hiesigen Gesellschaft bereits in- und auswendig, ja, er hatte sie schon nach dem ersten Abend gekannt. Man sollte doch glauben, dass diese Menschen, die weiter weg vom Reich lebten als irgendwelche anderen Deutschen, den neu aus
der Heimat eingetroffenen Leutnant Tristan von Arnsberg anderes zu fragen gewusst hätten, als wie er die entsetzliche Hitze empfinde und welche Meinung er bezüglich der zunehmenden Spannungen zwischen dem Reich und Großbritannien einnehme – Spannungen, die es schon seit zwanzig Jahren gab und die angeblich immer noch zunahmen. Doch der gedankliche Horizont der Kolonisten reichte nicht über ein halbes Dutzend Gesprächsthemen hinaus, und dieses halbe Dutzend teilte sich auch noch in Sujets für Damen und für Herren auf. Alles war durchschaubar und überschaubar. Die Hanssens, die Janssens, die Tiedemanns, die Hufnagels und eine Hand voll weiterer Plantagenbesitzer und Kaufleute, das war der ganze Kosmos, den Tristan vorfand und der heute bequem in einen Garten von zweihundert Quadratmetern passte. Überraschungen gab es in dieser Welt nicht. Jede Entwicklung kündigte sich Wochen im Voraus an, so dass jeder genug Zeit hatte, sich darauf einzustellen. Keine Verlobung, die nicht

Weitere Kostenlose Bücher