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Der Duft der grünen Papaya

Der Duft der grünen Papaya

Titel: Der Duft der grünen Papaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Benedict
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vergiften.«
    Ili nahm den Zettel an sich, las ihn und zerknüllte ihn sogleich. »Ich bin einiges von ihr gewohnt, aber das mit der Kokosnuss ist neu. Machen Sie sich keine Sorgen, Evelyn. Ich weiß, Moana sieht aus wie eine Schauerfigur aus Grimms Märchen, aber sie ist nicht gefährlich, jedenfalls nicht auf körperliche Art. Und selbstverständlich wird Moana nicht von mir vergiftet – obwohl die Verlockung manchmal wirklich groß ist.«
    Ili scherzte und lächelte, aber innerlich nahm sie Moanas Anschlag nicht so leicht. Dass auch Gäste in den seit Jahrzehnten andauernden Krieg zwischen ihnen einbezogen wurden, war neu. Überhaupt machte sich Moanas Hass in letzter Zeit stärker Luft als bisher – und scheute auch vor boshaften Lügen nicht zurück. Vergiften! So ein seniler Unsinn! Moana hätte genügend andere Vorwürfe auf den Zettel schreiben können, Vorwürfe, die der Wahrheit entsprachen oder ihr zumindest sehr nahe kamen. Ili hat mir meinen Verlobten weggenommen, hätte sie schreiben können. Oder: Ili hat meinen Ehemann vertrieben. Und dann war da noch die Sache mit Atonio, ihrem Sohn …

    »Aber wie kommt sie denn auf so etwas?«, fragte Evelyn. »Ist sie krank?«
    »Nicht im herkömmlichen Sinne, aber ich bin sicher, dass es irgendwo einen Namen gibt für das, was sie ist.«
    »Und sie wohnt – hier?«
    »Drüben, im anderen Teil des Hauses. Moana ist Anes Großmutter.«
    »Oh.«
    »Aber wie gesagt, sie wird Ihnen nichts tun. Wenn die Kokosnuss jemanden hätte treffen sollen, dann mich und nicht Sie.«
    »Wie – tröstlich.«
    »Es tut mir Leid, Evelyn. Wenn Sie lieber woanders wohnen wollen, verstehe ich das.«
    Evelyn fragte sich ernsthaft, wo sie hier hineingeraten war: Anschläge mit Kokosnüssen, Gift … Dennoch fühlte sie sich nicht unwohl, was vermutlich an der freundlichen Gastgeberin lag. Und da der Tee keinen Mandelgeschmack aufwies, war auch nicht zu befürchten, dass sie eine samoanische Version von »Arsen und Spitzenhäubchen« miterlebte.
    »Es ist mal was anderes«, umschrieb Evelyn ihre Skepsis. »Ich werde bleiben und besser auf herumf liegende Kokosnüsse achten. Und Sie sind wirklich sicher, dass Moana nicht etwas fehlt – im Kopf?«
    »Sie kann mich nicht ausstehen, milde ausgedrückt. Wir sprechen seit langer Zeit kein Wort miteinander. Nicht ein einziges. Wenn Moana sich ein Bein bräche und Ane wäre gerade nicht in der Nähe, würde sie eher zugrunde gehen, als mich um Hilfe zu rufen.«
    Das wurde ja immer besser, dachte Evelyn. »Und im umgekehrten Fall?«
    »Ich würde wahrscheinlich rufen, aber es brächte nichts. Moana würde mich einfach liegen lassen.«

    Ili seufzte. »Wissen Sie, Evelyn, wir leben schon so lange im Unfrieden, Moana und ich, praktisch seit unserer Kindheit, dass wir uns einen anderen Zustand zwischen uns kaum vorstellen können. Sie mögen das vielleicht seltsam finden, aber wir haben uns daran gewöhnt.«
    »Also ist Moana auch im Papaya-Palast geboren worden?« , fragte Evelyn neugierig.
    »Nein, sie wurde …« Ili zögerte. Eigentlich kannte sie Evelyn ja kaum, jedenfalls nicht gut genug, um ihr eine Familiengeschichte zu erzählen. Andererseits hatte sie nicht das Gefühl, eine Fremde vor sich zu haben. Vielleicht lag es daran, dass Evelyn Deutsche war und deshalb irgendeine  – wenn auch nur äußerst entfernte – Beziehung zu den Geschehnissen rund um den Papaya-Palast hatte. Vielleicht war aber auch schlicht Evelyns Interesse der Grund. Ili hatte schon sehr lange keine Gelegenheit mehr gehabt, mit anderen Menschen über die dramatischen Ereignisse des Jahres 1914 und die Zeit danach zu sprechen. Sobald sie englischen oder amerikanischen Gästen berichtete, dass der Papaya-Palast in der Kaiserzeit von einem Deutschen erbaut worden sei, sank die Aufmerksamkeit jener Touristen rapide, so als sei diese Tatsache in sich bereits langweilig und die Geschichte dahinter noch weit langweiliger, weil Amerikaner und Briten darin keine Rolle spielten. Außer vor vielen Jahren mit dem alten Ben hatte sie überhaupt noch nie darüber gesprochen.
    »Das alles lässt sich nicht in fünf Minuten erzählen«, warnte Ili.
    »Zeit gibt es in Samoa genug, das haben Sie selbst gesagt. Außerdem waren mir wechselvolle, weit zurückreichende Familiengeschichten schon immer die liebsten.«
    »Dann wird Ihnen meine gefallen.«
    Ili goss sich Tee nach, trank einen Schluck und vertiefte sich in die blühenden Büsche vor der Veranda. Aus den

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