Der Duft der grünen Papaya
geschminkt hatte, deutete darauf hin, dass sie in den letzten Tagen viel geweint und auch für den heutigen Tag nichts anderes erwartet hatte. Ihr Haar war nicht gewaschen, die Fingernägel nicht lackiert, und die farbliche Zusammenstellung der Kleidung war für Ane unpassend. Evelyn wusste nur zu gut, dass dies alles erste Anzeichen von Niedergeschlagenheit und Resignation waren.
»Wenn Sie reden wollen«, bot Evelyn an. »Ich kann gut zuhören.«
»Das ändert auch nichts«, murmelte Ane und blickte starr in den Himmel.
»Nicht sofort«, gab Evelyn zu. »Aber manchmal erleichtert es uns das Reden und macht den Kopf frei für ein wenig
Zuversicht. Ich hätte mir früher gewünscht, dass man mich zum Reden aufgefordert hätte. Stattdessen habe ich mich zurückgezogen, und meine Gedanken haben sich nur um eine Sache gedreht. Wohin mich das gebracht hat, haben Sie ja selbst mitgekriegt.«
Ane reagierte nicht, und so saßen sie einfach nur beieinander. Evelyn versuchte vergeblich, dem Gespräch zwischen Arzt und Polizist, die hinter den Hecken tuschelten, etwas zu entnehmen, doch sie sprachen zu leise und auf Samoanisch. Dann kam ein zu einem Leichenwagen umgebauter Kleinbus herangepoltert und zischte wie eine Dampflok, als er auf dem Rasen zum Stehen kam. Die zwei Männer blieben im Führerhaus sitzen, aus dem Radio ertönten Südseepop und alte Madonna-Songs, und sie warteten darauf, dass man sie rief.
»Er hat mich rausgeschmissen«, sagte Ane unvermittelt.
Evelyn sah sie an. »Ray Kettner?«
In Anes Stimme lag Wut. »Einfach so hat er meine Zukunft ausradiert. Hat mir von A bis Z etwas vorgemacht. Den Modelvertrag hatte er gefälscht. Und jetzt will er auch noch das Land enteignen lassen und mich dadurch um mein Geld bringen. Aber nicht mit mir. Jetzt, wo Großmutter tot ist, werden die Karten neu gemischt.«
Evelyn wurde erst in diesem Moment bewusst, dass Moanas Tod auch Auswirkungen auf den Verkauf des Landes haben konnte. Ane als junge Enkelin und Erbin konnte der Regierung womöglich entgegenkommen und eine erweiterte landwirtschaftliche Nutzung in Aussicht stellen, größere Plantagen, irgendetwas, das Eindruck machen würde.
»Werden Sie sich gegen den Verkauf wenden?«, fragte Evelyn hoffnungsfroh.
»Gegen den Verkauf? Pah! Ich werde dem lieben Raymond Kettner noch ein, zwei Millionen mehr aus dem
Kreuz leiern. Der wird tüchtig zahlen, das sage ich Ihnen. Jedes einzelne Wort seiner Beleidigungen im Aggie Grey’s wird ihn zehntausend kosten. Mindestens! Der wird noch bitter bereuen, was er mir angetan hat.«
In diesem Moment kam Ili hinter dem Haus hervor, die Hände in Handschuhen und ein säbelartiges Messer unter dem Arm. Offenbar hatte sie in der Plantage gearbeitet.
Evelyn hielt es für besser, ihr entgegenzugehen, damit sie nicht von Ane – deren Wut auf Kettner mittlerweile den Schock über Moanas Tod verdrängt hatte – die Nachricht überbracht bekam.
»Was ist denn los, Evelyn?«, fragte Ili. »Ich habe ein Auto klappern hören und dachte, es sei vielleicht Ben. Der Polizeiwagen? Hat man etwas wegen des Brandes herausgefunden?«
Evelyns Blick ging zum Kleinbus, aus dem noch immer für den Anlass unpassende Musik erklang, in diesem Moment »La isla bonita«.
»N-nein«, begann Evelyn zögerlich. »Es geht um Moana. Ane hat sie vorhin aufgefunden. Sie ist tot, Ili.«
»Oh«, stöhnte Ili gedehnt, den Blick nach innen gerichtet. Alles in allem schien sie es gut zu verkraften, was Evelyn nicht erstaunte, denn die beiden hatten sich ja nun wirklich nicht nahe gestanden. Trotzdem wirkte Ili versonnen, beinahe melancholisch, als sie sagte: »Nun, es musste ja irgendwann so kommen. Wir sind beide über neunzig, ein Wunder fast. Eine von uns war an der Reihe. Aber – seltsam – wenn es dann passiert, kommt es doch überraschend.« Sie machte eine nachdenkliche Pause und fragte dann: »Wie geht es Ane?«
»Mittlerweile …« Evelyn überlegte ihre Worte sehr genau. »Mittlerweile besser. Sie scheint den schlimmsten Schreck überwunden zu haben. Man hat ihr irgendetwas zur Beruhigung gegeben. Der Arzt und Leutnant Malu
sind bei der Lei…« Sie unterbrach sich und korrigierte: »Sind drüben auf der Veranda.«
Ili nickte. »Danke für Ihre Rücksichtnahme, Evelyn. Aber ich möchte Moana noch einmal sehen. Begleiten Sie mich bitte?«
»Natürlich.«
Seite an Seite schritten sie den Papaya-Palast entlang ans andere Ende und betraten dort die Veranda.
Moana lag noch so da, wie
Weitere Kostenlose Bücher