Der Duft der Mondblume
Laufen und beim Schwimmen erwachte er zum Leben. Dabei ging er bis an seine körperlichen Grenzen, er spürte jede Muskelfaser, jeden Atemzug, jeden Herzschlag. Arme und Beine bewegten sich mechanisch, doch sein Geist flog frei dahin, wenn seine Füße die Meilen herunterhämmerten.
Manchmal stellte er sich vor, er würde wie einer der großen Adler über die Rockies oder wie die Falken seiner Heimatstadt durch die Lüfte rauschen. Manchmal schlitterte er im Schnee, glitt über einen zugefrorenen See oder sprang im Frühling zum ersten Mal in einen eiskalten Fluss. Und jedes Mal endete seine Phantasie – dieser Film in seinem Kopf – damit, dass er aufrecht auf einem Brett stehend die Wellen vor Hawaii ritt.
Im unberechenbaren Meer bei Santa Monica war längeres Schwimmen nicht immer möglich. Als er daher von der Eröffnung des eleganten privaten Sportclubs hörte, stahl er sich dort hinein und beobachtete die extravagante Eröffnungszeremonie.
Er hatte noch nie ein so prachtvolles Gebäude gesehen. Das wunderschöne Schwimmbad befand sich in einem der oberen Stockwerke – eine Neuheit in der Stadt – und war im Jugendstil gehalten: mit geätzten Buntglasfenstern, Kronleuchtern, Lampen in Form von Schwänen und einem Boden aus Marmor. Im Erdgeschoss spielte eine vierzig Mann starke Band, und Kellner in eleganten Livreen reichten den Filmstars und anderen Berühmtheiten Essen und Getränke. Überrascht stellte er fest, dass kein anderer als der hawaiianische Schwimm- und Surfkönig Duke Kahanamoku den Eröffnungssprung in den Swimmingpool machen würde – eben der Mann, den er in Red Hawk in der Wochenschau gesehen hatte.
Er drängelte sich nach vorne und wartete darauf, Duke die Hand schütteln zu dürfen, sobald er aus dem Wasser stieg. Atemlos erzählte der junge Mann dem noch nicht einmal zehn Jahre Älteren, wie er ihn eines Tages im Kino gesehen hatte und dass er seitdem davon träumte, einmal nach Hawaii zu kommen.
»Schau bei mir im Outrigger Canoe Club vorbei, wenn du da bist«, sagte Duke herzlich, bevor die Veranstalter ihn fortzogen.
In den folgenden Wochen freundete sich der junge Mann mit einem Wachmann des Clubs an, der ihm erlaubte, spätnachts allein den Pool zu benutzen. Da er im Sommer nichts weiter zu tun hatte, als tagsüber am Strand als Rettungsschwimmer zu arbeiten, und im Winter von dem Geld seines dankbaren Wohltäters lebte, verbrachte er jede freie Minute im Pool. Er fing an, sich mit anderen zu messen, wobei er häufig gewann. Wann immer er von einem Schwimmwettkampf erfuhr, tauchte er auf, sprang ins Wasser und siegte. Mit der Zeit wurde der Club auf den erfolgreichen jungen Mann aufmerksam, und der dortige Trainer erklärte ihm, dass es bei den Wettkämpfen ein System gab, und bot ihm an, für seinen Club zu schwimmen. Nun war er nicht mehr auf einsame nächtliche Trainingsstunden angewiesen.
Der Trainer überzeugte ihn auch, in Philadelphia bei einer Schwimmmeisterschaft im Langstreckenschwimmen für den Club anzutreten, und begleitete ihn dorthin. Diesmal reiste er mit einer gültigen Fahrkarte. Zwar war die zweite Klasse nicht gerade luxuriös, aber doch ein Riesenunterschied zu einem Güterzugwaggon.
Obwohl sich der Trainer mit ihm anfreundete, machte sich der junge Mann keine Illusionen, denn er wusste, dass er diese Freundschaft einzig seinen Siegen für den Club verdankte. Falls er verlor, würde er wieder allein dastehen und nicht weiterwissen. Denn er hatte keine echten Freunde, weder unter den Clubmitgliedern noch unter den anderen Wettkämpfern. Meist blieb er für sich; seine Entschlossenheit und sein Ehrgeiz machten ihn einsam.
Das Wettschwimmen fand im kalten, kabbeligen Delaware River statt, doch als er hineinsprang, stellte er sich vor, es sei das laue Wasser von Waikiki. Er gewann mit mehreren Längen Vorsprung, und am nächsten Tag prangte sein Gesicht auf den Sportseiten der Lokalzeitung. In dem Bericht wurde der Sieger aus dem Westen bejubelt, der sich bei seinem Debüt als Langstreckenschwimmer den hiesigen Titel geholt hatte. Sorgfältig schnitt er das erste Zeitungsfoto von sich aus, schrieb das Datum darauf und steckte es in seine Brieftasche. Man bot ihm an, im Osten zu bleiben und an weiteren Wettkämpfen teilzunehmen, von einem Ein-Meilen-Gästeturnier bis zu einem Zehn-Meilen-Schwimmen. Er gewann sie alle. Allmählich wurde er nicht nur als Langstreckenschwimmer berühmt, sondern dafür, dass er jeden Wettkampf gewann. Sein Name tauchte nun
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