Der Duft des Anderen
konnten, klingelte es. »Ich mache auf«, rief Andreas aus der Küche.
»Küsschen, Andreas«, erscholl es auf dem Hausflur. »Ist das Publikum schon anwesend? Ich bin ja so gut in Form heute.«
Herein rauschte Erich Blume im Frack, breitete die Arme aus und sang: »Ich lahade gern mir Gähäste ein …«
»Oh Erich, heute als Mann verkleidet!«, scholl es ihm entgegen.
Erich tänzelte näher. »Und nicht als gewöhnlicher Mann, ihr lieben Freunde, sondern als Graf.« Er beugte sich zu jedem hinunter und verteilte Küsschen auf jede Wange. Zu Barbara sagte er: »Du bist also dieser sagenhafte Sascha. Darf ich dir aus der Hand lesen, schöner Knabe?«
»Der Graf Orlowski war auch Wahrsager, das wusste ich gar nicht«, lächelte Barbara und hielt ihm die Hand hin.
Ein Mann, der sich als Mann verkleidet, der sonst als Frau herumläuft
, dachte sie. Ein Kuriosum oder völlig menschlich? Was würden sie in dieser Runde wohl zu einer Frau sagen, die sich als schwuler Mann verkleidet? Würden sie sie auch so herzlich empfangen?
»Erichs alter Trick, um in den Genuss zarter Hände zu kommen«, sagte Stephan.
»Ich bitte dich, Stephan! Ich habe noch nie mit Tricks gearbeitet. Mein Publikum hat mich immer so geliebt, wie ich bin. Ich kann wirklich aus der Hand lesen, wartet, ihr kommt auch noch alle dran. Ich weiß, ihr habt Angst vor der Zukunft, denn die ist düster. Ich sehe euch alle mit grauen Haaren wehmütig um denkmalgeschützte Klappen wanken.«
Er beugte sich über Barbaras Hand, aber Andreas erschien mit dem großen Topf, und das Handlesen musste auf später verschoben werden. »Wer jetzt noch kommt, hat Pech gehabt«, verkündete Andreas. Etwas später beugten sich alle über ihre Teller, doch dabei setzten sie ihre Unterhaltung fort.
Barbara sagte zuerst nicht viel, sie hörte zu, und es gefiel ihr in der lustigen Runde. Es wurde gewitzelt, gelästert und getratscht, was das Zeug hielt. Alle waren vergnügt oder taten wenigstens so, denn an diesem Abend brauchte niemand cool am Tresen herumzustehen, wenn er in Wahrheit das heulende Elend hatte. An Kais Abenden war sich entspannen heilige Pflicht, und das taten sie alle mit Inbrunst. Wer Liebeskummer hatte, konnte ihn hier vielleicht für Stunden vergessen, wer was mit wem hatte, verflossen, abgelegt, jeder wusste es, es war nicht wichtig. Und wer echte Sorgen hatte, der blieb gleich weg.
Barbara wusste nur sehr wenig von den Problemen und Sorgen der Schwulen. Sie fand sie hinreißend, charmant, gebildet, witzig und immer gut gelaunt. So ein geselliger Abend war genau das, was sie wollte. Niemand tatschte sie an, niemand rückte ihr auf den Leib. Stattdessen gab es eindeutige Blicke und zweideutige Bemerkungen. Barbara passte sich schnell an, hier konnte sie funkeln mit ihrem Geist, ihrem Witz und ihrem Aussehen. Und das alles ohne den bitteren Beigeschmack von zwanghaftem Sex. Anfangs hatte sie das Prickeln genossen, unerkannt als Frau zwischen ihnen zu sitzen, doch schließlich hatte sie es vergessen. Unbemerkt war sie in die ihr gemäße Rolle geschlüpft, musste nichts mehr spielen, nicht mehr ängstlich auf ihre Worte achten, die sie verraten könnten. Jetzt fühlte sie wie ein Mann, war ganz sie selbst geworden. Erst viel später, als dieses Gefühl zwangsläufig wieder von ihr abfiel, erinnerte sie sich, wie sich das angefühlt hatte, so eins mit sich zu sein.
Gegen Mitternacht kam dann doch noch etwas Kultur in die fröhliche Runde. Erich Blume trat als Graf Orlowski auf und mimte danach im gleichen Kostüm noch den Gefängniswärter Frosch, was großen Beifall hervorrief. Dann wurde Richard gebeten, seine Gedichte vorzulesen, und rein zufällig hatte er sie dabei. Es waren Liebesgedichte, Barbara fand sie schlecht, aber sie wurden höflich beklatscht was Richard, dessen Gesicht inzwischen glühte, ermutigte, seine zweite Mappe herauszuholen. Niemand hörte mehr wirklich zu, einige gähnten verstohlen, aber Richard, über seine Blätter gebeugt, bemerkte es nicht.
Er tat Barbara leid, aber der Abend war fortgeschritten, der Alkohol hatte ein Übriges getan, und die Herz-Schmerz-Gedichte schienen sich in endlosen Schleifen zu wiederholen. Richard hatte sein Herzblut hineingegossen. Aber wie so mancher Freizeitdichter glaubte er, bei den modernen Gedichten könne man nicht nur den Reim weglassen, sondern auch auf die Form verzichten.
»Ja, ich muss leider«, erhob sich Rudi als Erster, weil er von Stephan unter dem Tisch einen Stoß erhalten
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