Der Duft des Blutes
sicher nicht gerade Freunde geschaffen. Wenn ich aber bis acht warte, dann sind wir dran. Dann können wir ja einfach mal dort rausfahren und uns umsehen, überlegte die Kommissarin, obwohl ihr klar war, dass sie in diesem Gelände ohne Hunde und die Hundertschaften aus der Kaserne drüben keine Chance hatten, eine Leiche zu finden -wenn es denn eine gab.
Eine Weile sah sie noch in die Nacht hinaus. Bewegte sich dort drüben im Hof nicht etwas? Sie presste die Nase an die Scheibe, doch sie konnte nichts erkennen. Der Wind fuhr durch die bunt belaubten Bäume.
„Ach was, du bist überspannt. Geh ins Bett und schlaf erst mal drüber!", befahl sie sich selbst .und schlüpfte unter ihre Bettdecke.
Der Vampir verließ seinen Beobachtungsposten im Hof vor dem Haus für Kunst und Handwerk und trat, eine alte Weise pfeifend, auf die Lange Reihe hinaus.
Sabine schlief unruhig in dieser Nacht. Auf den Knien kroch sie durch dichte Wälder, watete durch Teiche und lief über üppig grüne Wiesen, immer den Geruch des Todes in der Nase. Sie hörte ein Kind greinen, doch sie konnte nicht feststellen, von woher das Weinen kam. Dann sah sie die Tote. Sie lag im Wasser, nein, sie schwebte über dem Wasser. Auf einem Baumstumpf saß das Mädchen und hielt einen blicklosen Kopf in seinem Schoß. Obwohl alles in ihr sie drängte, nur noch in wilder Panik davonzulaufen, trat die Kommissarin Schritt für Schritt näher. Da bewegte sich das wächserne Gesicht plötzlich und grinste sie an. Der Blick aus den flammend roten Augen traf Sabine bis ins Mark. Mit einem Schrei fuhr sie hoch.
Das erste kühle Grau des Morgens kroch ins Schlafzimmer. Gehetzt sah sich die junge Frau um, doch keine finsteren Gestalten mit roten Augen waren zu entdecken. Mit einem Seufzer ließ sich Sabine wieder in die Kissen sinken, bis die Erkennungsmelodie von Fun-Fun-Radio sie wieder hochschreckte. Ein ungemein gut gelaunter Moderator flötete, dass es nun sieben Uhr fünfzehn sei, und wünschte ihr mit Who wants to liveforever von Queen einen guten Morgen.
Mit einem Fluch auf den Lippen sprang Sabine aus dem Bett, schlug auf den Radiowecker ein, sodass er mitten im Ton verstummte, und hastete dann ins Bad. Sie hielt die Zahnbürste schon in der Hand, doch dann kehrte sie noch einmal langsam in den Flur zurück. Da lag etwas auf ihrer Fußmatte, das dort gestern Abend sicher noch nicht gelegen hatte. Widerstrebend trat sie näher. Sie spürte eine plötzliche Übelkeit aufsteigen. Eine Weile starrte die Kommissarin das in feiner Schnörkelschrift beschriebene Blatt an, dann ließ sie sich langsam in die Hocke sinken. Ohne den Brief zu berühren, las sie die Nachricht.
Verehrte Sabine, sicher haben Sie mein kleines Zahlenrätsel inzwischen gelöst. So schwer war das ja nicht. Ich kann Ihnen noch verraten, dass Ronja in Hamburgs Schöße ruht.
Noch eines, bei meiner ersten Aufgabe ist Ihnen ein kleiner Fehler unterlaufen. Unter Bäumen ist wohl richtig, doch am Wasser muss ich verneinen. Auch im Wasser ist streng genommen nicht korrekt. Fast wäre ich geneigt zu sagen, über dem Wasser, doch das würde Sie wieder auf eine falsche Fährte locken. Vereinen Sie in Ihren Gedanken die wild wuchernde Natur und das geheimnisvoll trübe Wasser, das mit unschuldig glatter Miene den Unerfahrenen in den Tod lockt. Beeilen Sie sich, denn ihre Schönheit ist am Welken, und der Körper verfällt.
„Ein Moor", flüsterte Sabine, „ein Moor!" Eilig lief sie barfuß ins Arbeitszimmer, um den Hamburger Stadtatlas zu holen.
„Oh nein!" Zwischen Pinneberg, Rissen und Wedel wimmelte es geradezu von Mooren. „Seemoor, Butterbargsmoor, Krabatmoor..."
Die Kommissarin stöhnte auf, doch dann fiel ihr etwas ein. Sie nahm die Karte und warf sie neben die Nachricht auf den Boden. Noch einmal studierte sie sorgsam den Text.
„In Hamburgs Schöße ruht!" Das war es. Pinneberg, Wedel und all die Moore mit den seltsamen Namen lagen außerhalb Hamburgs Grenzen und gehörten zu Schleswig-Holstein. Nur die kleine Ausstülpung nördlich von Sülldorf und Rissen war noch Hamburger Gebiet. Langsam strich ihr Finger über die Detailkarte. An der Grenze gab es einen Sandmoorweg, dann östlich der Kläranlage das Schnaakenmoor und ein Stück weiter nördlich das Grotenmoor. Knapp zwei Quadratkilometer, schätzte die Kommissarin.
„Das kriegen wir heute durch!"
Sabine Berner holte sich Handschuhe und packte den Brief vorsichtig in eine Plastiktüte, dann eilte sie ins Bad.
Weitere Kostenlose Bücher