Der Duft des Blutes
vielleicht sagen kann, ob Lilly missbraucht wurde." Sabine zog eine Grimasse. „Die Lehrerin noch einmal zu befragen kann ich mir wohl sparen."
„Die Großmutter im Pflegeheim?", schlug Sönke vor.
Sabine schüttelte den Kopf. „Alzheimer! Da ist nichts zu machen."
Sie blätterte den Kalender mit den vielen Symbolen und Abkürzungen sorgsam durch. Ronja hatte hier vor allem ihre Kunden und die Uhrzeiten ihrer Besuche vermerkt, nie jedoch deren richtige oder vollständige Namen notiert. Neben den Arbeitsterminen fand Sabine ab und zu auch einen Frisör und eine Maniküre, dann einen Dr. Kern, der, wie sie inzwischen wusste, Ronjas Gynäkologe gewesen war.
Noch einmal sah sich Sabine die Eintragungen der vergangenen Monate genau an. Einige waren mit Telefonnummern versehen. Die Kommissarin zog die Gelben Seiten hervor und suchte nach Kinderärzten. Sie verglich die Eintragungen in Ronjas Kalender mit den Namen und Telefonnummern der Ärzte.
„Das könnte etwas sein", murmelte sie und griff zum Hörer.
„Praxis Dr. Lichtenstein und Dr. Glockner, was kann ich für Sie tun?", meldete sich eine Frauenstimme mit leichtem Akzent.
„LKA 41, Berner, guten Tag. Wir sind auf der Suche nach einem Mädchen, Lilly Maas, geboren am 13. Juni 2001. Würden Sie bitte in Ihrer Kartei nachsehen, ob das Kind bei Ihnen Patientin ist?"
„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen darf", zögerte die Frau. „Warum wollen Sie das wissen?"
Es war einige Überzeugungsarbeit nötig, bis die Sprechstundenhilfe bereit war, in der Patientenkartei nachzusehen. Ungeduldig scharrte die Kommissarin mit den Füßen, dann endlich meldete sich die Stimme wieder.
„Ja, das Mädchen war bei Dr. Lichtenstein in Behandlung."
„Na, dann wollen wir uns den Arzt mal zu Gemüte führen!", brummelte Sönke, der das Telefonat mitverfolgt hatte. Die Kommissarin nickte.
„Dann geben Sie mir bitte einen Termin bei Herrn Lichtenstein."
„Der Herr Doktor hat jetzt noch drei Patienten, dann ist seine Mittagspause, und heute Nachmittag sind alle Termine schon vergeben. Ist es denn sehr wichtig? Ich kann ihn jetzt nicht stören. Rufen Sie doch bitte um siebzehn Uhr noch einmal an. Vielleicht kann ich Sie dann verbinden."
Sabine verabschiedete sich und legte auf. „Ich fürchte, der liebe Doktor wird uns seine Mittagspause opfern müssen", sagte sie zu Sönke, erhob sich und griff nach ihrer Tasche.
Das prächtige, in warmem Gelb gestrichene Stadthaus in der Papenhuder Straße in Uhlenhorst beherbergte einen Internisten, einen Orthopäden und die Gemeinschaftspraxis des Allgemeinarztes Dr. Glockner und des Kinderarztes Dr. Lichtenstein. Kommissarin Berner und ihr Kollege Lodering stiegen die breiten Stufen bis in den dritten Stock hoch und ließen sich dann von einer zierlichen Asiatin ins Sprechzimmer geleiten.
Dr. Lichtenstein war ein stattlicher, hellhäutiger Mann, sorgfältig rasiert, mit kurzem grauem Haar. Er erhob sich aus seinem bequemen Ledersessel, schüttelte der Kommissarin und ihrem Begleiter die Hand und bot ihnen Platz auf den kunterbunten Besucherstühlen an.
„Was kann ich für Sie tun?", fragte er lächelnd und schickte seine Sprechstundenhilfe hinaus, um Kaffee zu kochen.
„Sagt Ihnen der Name Maas etwas?", fragte die Kommissarin.
Der Doktor runzelte die Stirn. „Maas, ja, ich muss überlegen."
„Edith Maas, eine Prostituierte, die sich Ronja nannte", fuhr die Kommissarin, einer plötzlichen Eingebung folgend, fort.
Ihr war es, als zuckte der Arzt ein wenig zusammen.
„Sie meinen die Frau, die ermordet aufgefunden wurde? Ich habe davon in der Zeitung gelesen", fügte er noch rasch hinzu.
„Ist die Tochter Lilly nicht bei Ihnen in Behandlung?" Zögernd nickte der Arzt, fügte dann nach einer kurzen Pause jedoch hinzu: „Sie ist meine Patientin, das ist das Einzige, was ich Ihnen sagen kann. Weitere Auskünfte verbietet mir meine ärzüiche Schweigepflicht."
Die Kommissarin seufzte. „Hören Sie, Herr Lichtenstein, Lilly Maas ist seit mehr als vier Wochen verschwunden, und ihre Mutter wurde ermordet. Es gibt Fotos, die die Annahme stützen, dass das Mädchen missbraucht wurde. Können Sie diesen Verdacht bestätigen?"
Wieder hob der Arzt nur abwehrend die Hände. „Ich darf Ihnen nichts sagen ohne richterlichen Befehl."
„Warum machen Sie es uns so schwer? Wenn wir mit unserer Vermutung recht haben, dann läuft da draußen ein Mann herum, der kleine Mädchen missbraucht und vielleicht auch mehrere Morde auf dem
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