Der Duft des Bösen
trinken.«
Inez holte aus dem Kühlschrank eine Flasche Weißwein und schenkte zwei Gläser ein.
»Sie sind sehr liebenswürdig«, sagte Jeremy. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie etwas frage? Warum heißen Sie Inez? Sie sind doch keine Spanierin, oder?«
Inez lächelte. »Mein Vater war im Spanischen Bürgerkrieg. Ich sage nicht, dass er ›gekämpft‹ hat, aber er ist dabei gewesen. Damals war er noch nicht verheiratet, aber meine Mutter meinte, er habe ihr erzählt, er sei ›beim Bodenpersonal‹ gewesen. Klingt ein bisschen seltsam, ich weiß. Da war ein Mädchen, das er mochte, vielleicht sogar mehr als das. Sie hieß Inez und kam ums Leben.«
»Hatte denn Ihre Mutter nichts dagegen, dass Sie deren Namen trugen?«
»Ich denke nicht. Ihr hat er auch gefallen.« Inez lachte. »Es wird gleich zehn. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich die Nachrichten einschalte?«
»Selbstverständlich nicht.«
»Ich habe nur gehört, sie haben das Mädchen gefunden. Diese Jacky Miller, meine ich.«
Hatten sie nicht. Die Leiche, die man auf einem Bauplatz in Nottingham unter einem Haufen Zementbrocken und Ziegelsteinen entdeckt hatte, entpuppte sich als ein Mädchen, das älter als Jacky und vermutlich seit annähernd zwei Jahren tot war. Wie hatte der Ermittlungsbeamte auf einer Pressekonferenz gesagt? Auf der Vermisstenliste stünden so viele junge Mädchen, dass man zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal darüber spekulieren könne, um wen es sich handle. Die Polizei sah sich nicht einmal imstande, etwas zur Todesursache des Mädchens zu sagen. Die Suche nach Jacky Miller ging inzwischen weiter.
»Ich bin noch nie in Nottingham gewesen«, meinte Jeremy.
»Dort wurde einer der Filme meines verstorbenen Mannes gedreht, und ich bin für ein paar Wochen mit ihm hinaufgezogen. Das muss – ach, Anfang der Neunziger gewesen sein, schätze ich.«
»Haben denn diese Mädchen keine Eltern, die sich Sorgen machen, wo sie stecken?«
»Ganz sicher«, sagte Inez. »Alle drei toten Mädchen und auch Jacky Miller haben Eltern, die aus Angst um sie fast verrückt geworden sind, das weiß man. Aber wenn ein Mädchen verschwindet und nicht gefunden wird, was können sie dann machen? Privatdetektive anheuern? Auf den Gedanken kommen die meisten Leute nicht einmal, so etwas ist viel zu kostspielig.«
»Vermutlich. Ich muss gehen. Vielen Dank für den Wein und dass Sie die Absage wegen morgen so nett aufgenommen haben.«
Inez widmete sich wieder ihrem Video. Allerdings gehörte »Forsyth und die Crown-Verschwörung« nicht zu ihren Lieblingsfilmen. Vielleicht hatte das einen Grund, den sie sich insgeheim nur sehr beschämt eingestand: Hier kam es zu mehr Sexszenen zwischen Martin und dem weiblichen Gaststar als in seinen übrigen Filmen. Eine Bettszene wirkte sogar täuschend echt. Als sie zu dieser Szene kam, schaltete sie ab und wollte schon den Film aus Nottingham einlegen, »Forsyth und das Wunder«. Doch anstatt die Bänder zu wechseln, saß sie still da und trank ihren Wein aus. Zuerst wanderten ihre Gedanken zu dem immer noch vermissten Mädchen und zu der Leiche, die man unter derart grässlichen Umständen gefunden hatte. Wie würden sich die Eltern fühlen, noch dazu, wenn sie in der Nähe wohnten, wenn sie erführen, dass die geliebte Tochter – und geliebt hatte man sie doch – jahrelang hier gelegen hatte? Dass ihr Körper auf der nassen Erde verwest war, unter einem Haufen Bauschutt, zu dem ständig neue Ladungen Steinbrocken und Ziegel hinzukamen? Vor ihrem inneren Auge sah sie erneut die Szene auf dem Bildschirm: den hohen Schuttberg, den man endlich zum Entsorgen weggeräumt hatte. Wie eine Lawine war ein Stapel Ziegel heruntergestürzt und hatte etwas freigelegt – eine ausgestreckte Hand.
Trotz ihres Wunsches nach Kindern hatte Inez nie eines bekommen. Beide Ehemänner hatten dieses Bedürfnis nicht geteilt, was ihre Enttäuschung etwas gemildert hatte. Martin, der einzige Mann, der ihr wirklich etwas bedeutet hatte, hatte bereits aus seiner ersten Ehe Kinder gehabt und eigentlich keine mehr gewollt. Trotzdem hätte er sich für sie gefreut, wenn … Plötzlich schreckte sie mit dem Weinglas in der Hand hoch. Ihr war eine Bemerkung von Jeremy in den Sinn gekommen. Wie konnte Belinda erst sechsunddreißig sein, wenn ihre Mutter schon achtundachtzig war?
Vielleicht war es ja unter gewissen seltenen Umständen, die dann ins »Guinness Buch der Rekorde« eingingen, möglich, dass eine Frau mit zweiundfünfzig
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