Der Duft des Regenwalds
schlecht verweigern, vor allem wenn er auf finanzielle Unterstützung aus Patricks Erbe hoffte.
»Warum wollen Sie mir auf einmal helfen, Ix Chel zu finden und den Mord an Patrick aufzuklären? Um Ihre eigene Unschuld zu beweisen?«, fragte sie.
Er hob die Hände.
»Das allein ist es nicht. Ich will selbst die Wahrheit wissen, denn ich habe einen Verdacht.«
»Was meinen Sie damit?«
Er stand auf und drehte eine kleine Runde in der Hütte.
»Ihr Bruder stellte sich auf unsere Seite, vor allem wegen Ix Chel. Ich habe das Gefühl, dass Ladinos für seinen Tod verantwortlich sind. Vielleicht die Aufseher von der Grabungsstätte oder gar mein alter Patron, der Herr Bernhard. Womöglich sogar Hans Bohremann.«
Alice versuchte verwirrt, seinen Überlegungen zu folgen, denn sie hatte bereits gelernt, die Intelligenz dieses Mannes zu schätzen. Doch diesmal glaubte sie, sich in einem Dickicht zu verirren. Die meisten all jener, die er verdächtigte, waren ihr unbekannt, doch Hans Bohremann schien ihr in seiner strebsamen Aufrichtigkeit nicht fähig, einen heimtückischen Mord zu begehen. Tief in ihr schlummerte eine Ahnung, die zu wachsen und sich auszubreiten begann wie eine Pflanze im Sonnenlicht. Der klugen, misstrauischen, harten Rosario traute sie zu, Störenfriede aus dem Weg zu räumen, obwohl sie im Augenblick keinen klaren Grund erkennen konnte, warum die schöne Mexikanerin Patrick als störend hätte empfinden sollen. Bevor sie diese Gedanken in Worte fassen konnte, öffnete Andrés die Tür der Hütte.
»Es tut mir leid, Miss Wegener, aber wir können nicht bis zur Abenddämmerung miteinander reden. Meine Freunde werden Sie zu der Hütte zurückbringen, wo Sie betäubt wurden. Wenn Sie den Weg von dort zur Hazienda nicht finden, hilft Ihnen sicher der Hund.«
Er machte eine auffordernde Handbewegung, und sie gehorchte ihm, wobei sie gleichzeitig über ihr eigenes Verhalten staunte. Dieser indianische Maschinenliebhaber hatte etwas an sich, das sie beruhigte, vielleicht weil ihre Scharfzüngigkeit und ihr Starrsinn ihm nichts weiter entlockten als ein Lächeln. War Ausgeglichenheit ansteckend?
Ihr blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Rasch trat sie ins gleißende Sonnenlicht.
»Wir sehen uns in Palenque!«, rief Andrés ihr nach, als sie zusammen mit den drei Männern das Dorf verließ. Sie drehte sich kurz um und sah ihn winken. Während sie sich durch hohes Gras kämpfte, in dem Mariana fast völlig verschwand, überlegte sie, wie er an der Grabungsstätte Kontakt mit ihr aufnehmen wollte, ohne von jemandem bemerkt zu werden. Aber seltsamerweise zweifelte sie nicht daran, dass es ihm gelingen würde. Sie hatte nur noch zwei Möglichkeiten. Sie konnte die Reise nach Veracruz antreten und den nächsten Dampfer nehmen, der sie ins sichere, vertraute Europa bringen würde. Dort wartete Tante Grete mit Vorwürfen auf sie. Gleichzeitig sehnte sie sich nach ihrer kleinen, unordentlichen Wohnung, nach Zeit und Ruhe, um all jene Wildheit und Farbenpracht, der sie in Mexiko begegnet war, auf die Leinwand zu bannen.
Ihre nächste Ausstellung sollte ein noch größerer Erfolg werden als die erste. Nur so kam ein Mensch im Leben voran. Ihr fiel auf, dass sie diese Denkweise von ihrem Vater gelernt hatte.
Die andere Möglichkeit bestand darin, in Mexiko zu bleiben, einen missmutigen Dr. Scarsdale davon zu überzeugen, dass sie ihm weiter auf die Nerven fallen würde, und darauf zu hoffen, dass ein ihr fast unbekannter Indianer, der als Mörder galt, ihr dabei half, Patricks Mörder zu finden.
Vor der Hütte verabschiedete sie sich freundlich von den drei Männern, die sie betäubt und verschleppt hatten. Dann folgte sie der aufgeregten Mariana zurück zur Hazienda der Bohremanns.
Sie brauchte nicht lange nachzudenken, denn innerlich hatte sie die Entscheidung bereits getroffen.
Dr. Scarsdale nahm Alice’ Entschluss, ihn nach Palenque zu begleiten, mit Staunen hin, doch nachdem er die üblichen Einwände wie die Unbequemlichkeit der Reise und den mangelnden Sinn eines solchen Unterfangens vorgebracht hatte, wurde sie als unerwünschtes Anhängsel akzeptiert. Hans Bohremann und Juan Ramirez kehrten noch vor Einbruch der Dämmerung zurück, ohne den flüchtigen Indianer gefunden zu haben. Das Abendessen verlief in schlechter Stimmung, doch da wenig gesprochen wurde, kam es auch nicht zu Auseinandersetzungen.
Kurz bevor Alice in ihr Zimmer ging, teilte Dr. Scarsdale ihr mit, dass sie am nächsten Morgen um
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