Der Duft des Regenwalds
Kopf. Dann wurden Sie betäubt«, sagte er. »Ein Schlag mit der Handkante gegen die Halsschlagader. Der Medizinmann kann das. Er wurde dabei von Mariana in die Wade gebissen, aber er verzieh ihr, weil er weiß, dass ein guter Hund sich so verhält. Ich hoffe, es ist alles in Ordnung mit Ihnen.«
Sie nahm echte Besorgnis in seiner Stimme wahr.
»Ich lebe noch«, entgegnete sie. »Und jetzt will ich wissen, wo genau ich bin.«
»Ein gewöhnliches Indio-Dorf, wie Sie sehen. Nicht so weit weg von der Hütte, wo ich sie ursprünglich treffen wollte, denn die Betäubung hielt nicht lange an.«
Er machte eine ausladende Geste, als zeige er ihr Sehenswürdigkeiten.
»Ein paar Hütten, dort hinten der Temazcal, wo die Frauen sich gerade zum Schwitzbad versammeln, das auch als Geburtsvorbereitung hilfreich sein soll. Die meisten der Männer arbeiten auf den Plantagen oder in Städten. Die Frauen müssen daher sehen, wie sie allein zurechtkommen, aber meistens gelingt ihnen das ganz gut.«
Alice staunte, wie rasch seine Erklärungen sie beruhigten. Das Traumgefühl wich dem Bewusstsein, in einer Wirklichkeit verwurzelt zu sein, die nicht so schlimm war.
»Aber ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen. Würden Sie mir wieder in die Hütte folgen? Man hat sie Ihnen großzügig überlassen«, sagte Andrés Uk’um schließlich und wies auf jene Tür, gegen die sie vor Kurzem getreten hatte. Alice folgte der Aufforderung, denn die ruhige Vernunft, die dieser Mann ausstrahlte, nahm ihr den letzten Rest an Misstrauen. Sie setzte sich auf die Bank, Andrés ließ sich neben ihr nieder. Allerdings wahrte er respektvollen Abstand. Sein gelegentlicher Spott war frei von jenem spielerischen Flirten, wie sie es von Juan Ramirez kannte. Auch hatte dieser bebrillte Indianer ihr niemals jene teils bewundernden, teils gierigen Blicke zugeworfen, von denen sie regelrecht verfolgt wurde, seit sie in Veracruz den Dampfer verlassen hatte. Alice fragte sich, warum ihr dies gerade jetzt auffiel. Sie horchte in sich hinein, konnte aber keine Enttäuschung feststellen, nur eine leichte Unzufriedenheit, die nicht schmerzte. War sie es so sehr gewohnt, von Männern angestarrt zu werden, dass es sie tatsächlich irritierte, wenn diese Reaktion ausblieb?
»Was ich Ihnen sagen wollte, ist Folgendes.« Andrés riss sie aus ihren Gedanken. »Ix Chel lebt. Ich hatte den Eindruck, es wäre Ihnen wichtig, dies zu erfahren.«
Alice schnappte nach Luft. Alle Gedanken über enttäuschte Eitelkeit wurden aus ihrem Kopf verdrängt.
»Haben Sie sie gefunden?«
»Nein. Aber ich hörte Gerüchte. Und ich fand diesen Ring.«
Er hielt ihr einen schmalen Reif aus Gold entgegen.
»Das ist ein Erbstück aus unserer Familie. Mein Vater trug einen ähnlichen. Vielleicht war es der Ehering meiner Mutter, den Patrick aus irgendeinem Grund nach Mexiko mitnahm«, stammelte Alice.
»Ich weiß nicht, woher Patrick ihn hatte«, erwiderte Andrés. »Aber er steckte ihn Ix Chel an den Finger. Nun ist dieser Ring in einem Indio-Dorf aufgetaucht. Der Kazike hatte sich ihn um den Hals gehängt, und als ich nicht lockerließ, erfuhr ich, dass ein flüchtiges Mädchen ihn schweren Herzens hergegeben hatte, um dafür Hilfe zu bekommen.«
Alice ballte die Hände zu Fäusten.
»Wenn diese Ix Chel sogar den Ring ihres verstorbenen Mannes hergab, dann … dann wollte sie vielleicht nur …«
»Sie wollte überleben«, unterbrach Andrés. »Das ist nicht einfach für eine junge, mittellose Frau. Es mag ihr sehr schwergefallen sein, sich von dem Ring zu trennen, aber ich glaube, Patrick wäre eine lebendige Ix Chel lieber gewesen als ein Leichnam mit einem Ehering am Finger.«
Alice schluckte und gab zögernd nach, obwohl sie immer noch nicht wusste, was von dieser unbekannten Indianerin zu halten war, die sie streng genommen als ihre Schwägerin ansehen musste.
»Kann ich Ix Chel treffen? Ist sie in diesem Dorf oder in einem benachbarten?«, fragte sie. Das bisher fast unerreichbare Ziel schien auf einmal so nah, dass es ihr schwerfiel, ruhig sitzen zu bleiben. Mariana spürte ihren Gemütszustand und lief aufgeregt herum.
Andrés fuhr sich mit der Hand durchs Haar. In den Sonnenstrahlen, die sich durch die Ritzen hereinschlichen, leuchtete es blauschwarz. Alice wurde bewusst, wie schön dieses glatte, schwere Indianerhaar war.
»Ich fürchte, so einfach ist es nicht. Ix Chel wollte zurück zu ihren Leuten. Es gelang ihr, dies dem Kaziken klarzumachen. Für den Ring
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