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Der Duft des Regenwalds

Der Duft des Regenwalds

Titel: Der Duft des Regenwalds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Zapato
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wirklich keine Menschen geopfert?«, flüsterte sie. Andrés schien zu ihrer Erleichterung nicht empört über diese Frage. Er schüttelte den Kopf.
    »Ich habe es niemals mitbekommen. Die Ilols schlachten Hühner, in denen die bösen Geister, derer man sich entledigen will, angeblich gefangen sind. Mein Vater ist als Kazike ein angesehener Mann unserer kleinen Gemeinschaft. Privat ist er ein alter Schreihals und Sturkopf. Meine Mutter, die seine Launen mit bemerkenswerter Geduld erträgt, gilt als heilkundig. Viele der Frauen kommen zu ihr, wenn sie keine Kinder bekommen können, und einigen konnte sie tatsächlich zu einer Schwangerschaft verhelfen. Meine Schwester hat viel von ihr gelernt und ist die Hebamme des Dorfes. Meine anderen Geschwister führen ein ganz gewöhnliches Bauernleben. Ich würde gern sagen, dass keiner von ihnen fähig wäre, kaltblütig einen Menschen zu töten. Aber ich habe inzwischen gelernt, dass fast jeder Mensch unter bestimmten Umständen dazu fähig ist.«
    Alice musterte ihn verstört und wollte gerade fragen, was er damit meinte, als die ihr inzwischen vertrauten Laute des nächtlichen Dschungels von dem entsetzten Schrei einer Frau durchbrochen wurden.
    »Das ist Modesta!«, rief Andrés und sprang auf die Beine. Alice ließ vor Schreck die Statue fallen, nahm erleichtert zur Kenntnis, dass sie nicht zerbrach, und wollte ihm hinterhereilen, doch schob er sie energisch zurück.
    »Bleiben Sie hier! Und geben Sie keinen Laut von sich, bis ich wiederkomme. Andernfalls warten Sie, bis es hell wird, und suchen dann den Weg zum Lager.«
    Sie sah, wie er die Fackel in eine Wasserschüssel steckte, wo sie zischend erlosch. Es war so dunkel geworden, dass sie Schwierigkeiten hatte, die Hand vor Augen zu sehen. Andrés musste bereits verschwunden sein, denn sie hörte keine Bewegungen mehr in ihrer Nähe. Vorsichtig kroch sie in eine Ecke der Ruine, umschlang die Knie mit ihren Armen und versuchte, nicht daran zu denken, welche tierischen oder menschlichen Gestalten nun in ihrer unmittelbaren Nähe herumkriechen konnten. Keine Panik, befahl sie sich, denn sie wusste, dass sie erst recht in Gefahr geraten konnte, wenn sie aufgeregt herumzulaufen begann. Langsam gewöhnten ihre Augen sich an die Finsternis, denn die riesigen Bäume des Regenwaldes sperrten alle Gestirne des Himmels fast gänzlich aus. Im Dunkeln begannen sich Umrisse von Baumstämmen und Sträuchern abzuzeichnen, die sich mitunter regten, als würden sie von Geisterhand bewegt. Alice wehrte sich entschlossen gegen die in ihrem tiefen Inneren schlummernden Ängste vor dem Übernatürlichen, von deren Existenz sie bisher kaum etwas geahnt hatte. Im Augenblick lief sie hauptsächlich Gefahr, von Mücken zerfressen zu werden, mahnte sie sich, verzweifelt bemüht, ihrer Lage eine heitere Seite abzugewinnen. Aber je länger sie sich hier im Dschungel aufhielt, desto weniger appetitanregend schien sie für diese winzigen Plagegeister zu werden. Andrés hatte einmal erwähnt, dass es Patrick ähnlich ergangen war. Zunächst hatten die Mücken ihn schier aussaugen wollen, als sei er eine seltene Delikatesse, doch mit der Zeit begannen die Fremden allmählich wie Einheimische zu schmecken. Die Erinnerung an dieses Gespräch entspannte Alice, ließ sie kurz lächeln. Sie hatte mit kaum einem Mann jemals so gelassen und fröhlich plaudern können wie mit diesem studierten Indianer.
    Andrés. Wo blieb er eigentlich? Die Angst um ihr eigenes Wohlergehen wurde langsam von dem Gefühl einer größeren Bedrohung verdrängt. Wieso konnte sie keine weiteren Schreie und Stimmen mehr vernehmen, wenn er da draußen nach Modesta suchte? Auf allen vieren kroch sie an den Rand der Ruine. Sie glaubte, in der Ferne den Wasserfall rauschen zu hören. Ein Schwarm von Leuchtkäfern zog an ihr vorbei, schenkte dem Regenwald kurz klare Formen und Farben. Sie konnte keine Menschenseele entdecken. Das Gefühl völliger Verlorenheit schnürte ihr die Kehle zu.
    »Andrés«, flüsterte sie, doch ihre eigene Stimme klang ohrenbetäubend laut in ihren Ohren, »bitte, komm zurück!«
    Sie war sich nicht sicher, ob sie nur aus Angst um sich selbst gesprochen hatte. Die Vorstellung, niemals mehr mit diesem Mann über ihrer beider Vergangenheit plaudern zu können, schmerzte so, als könnte ein wertvoller Teil ihres Lebens einfach im Nichts verschwinden. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Diese nächtliche Einsamkeit tat ihr nicht gut, ließ sie hysterisch

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