Der Duft des Regenwalds
Dr. Scarsdales brachte gerade weitere Tortillas. Während der Archäologe sie abwartend musterte, ließ Alice sich eine davon auf den Teller legen, obwohl die erste bereits wie ein Stein in ihrem verkrampften Magen lag. Es gab keinen anderen Weg. Sie musste diese Frage beantworten. Glücklicherweise hörte niemand außer Dr. Scarsdale zu.
»Andrés Uk’um«, flüsterte sie, sobald der Diener sich entfernt hatte. Der Archäologe beugte sich vor und musterte sie angestrengt, als rede sie in einer schwer verständlichen Sprache. Eine Weile schwieg er. Alice kippte den Kaffee hinunter, um ihre Nervosität zu bekämpfen.
»Soll das ein Scherz sein, Miss Wegener?«
Alice zuckte leicht zusammen. Der eine Antwort fordernde, harte Tonfall erinnerte sie an ihren Vater. Eine mühsam verdrängte Angst kroch in ihr hoch, das Bewusstsein männlicher Übermacht, der sie hilflos ausgeliefert war. Sie zwang sich, aufrecht sitzen zu bleiben. Männer witterten Schwäche ebenso schnell wie Hunde.
»Nein«, sagte sie schließlich, »es ist kein Scherz. Andrés Uk’um hielt sich die ganze Zeit hier auf, und ich wusste davon. Ich glaube nicht, dass er Patricks Mörder ist, und möchte ihn nicht einer Gerichtsverhandlung ausliefern, die nichts weiter als eine Farce wäre.«
Die Kaffeetasse in Dr. Scarsdales Händen zitterte für einen Moment so stark, dass Tropfen an ihr hinabglitten. Der schmale Mann wirkte auf einmal geradezu hilflos. Ganz plötzlich sprang er auf, und dabei verschüttete er seinen Kaffee.
»Das … das ist unglaublich. Sie sind völlig verantwortungslos, genau wie Ihr Bruder. Sie scheren sich einen Dreck um die Arbeit hier, vergnügen sich und machen, was Sie wollen!«
Er hatte so laut gesprochen, dass einige der Arbeiter, die an den Ruinen bereits gegen Lianen ankämpften, sich erstaunt umdrehten. Alice war fassungslos. Zum ersten Mal empfand sie den beflissenen Wissenschaftler als einen Menschen aus Fleisch und Blut, doch sie hätte sich gewünscht, dabei etwas anderes als Zorn und heftige Empörung zu erleben.
»Ich hatte nicht die Absicht, Ihrer Forschungsarbeit zu schaden«, erwiderte sie kleinlaut und nahm sich vor, sich nicht weiter einschüchtern zu lassen.
»Ach ja, das hatten Sie nicht vor. Wie nett von Ihnen! Vielleicht denken Sie das nächste Mal nach, bevor Sie irgendetwas tun. Und jetzt verschwinden Sie bitte! Ich will Sie hier in Palenque nicht mehr sehen.«
Alice fröstelte. Ihr war, als hätte er sie mit Worten geohrfeigt, doch dieses Gefühl weckte ihren Stolz.
»Ganz wie Sie wünschen«, erwiderte sie kühl und erhob sich. »Ich werde abreisen, sobald ich eine Möglichkeit dazu habe. Bis dahin werde ich mir die größte Mühe geben, Sie nicht weiter zu belästigen.«
Entschlossen schritt sie auf ihre Hütte zu. Mariana sprang hinterher, etwas verwirrt, dass sie von Alice seit Längerem nicht mehr beachtet worden war. Julio war klüger, folgte und stellte keine Fragen. Sobald die Tür hinter Alice zugefallen war, fiel sie auf ihre Petate und vergrub das Gesicht in den Händen. Mariana leckte ihre Finger ab. Julio wartete geduldig, bis Alice sich beruhigt hatte, dann fragte er das übliche: »Que pasa?«
Sie schilderte ihm kurz die neuesten Ereignisse.
»Jemand muss Andrés warnen«, sagte sie schließlich. »Aber ich habe keine Ahnung, wo er sich versteckt. Ich hoffe nur, er ist jetzt nicht wieder in der Ruine, denn Dr. Scarsdale könnte …«
»In der Ruine ist er sicher nicht«, unterbrach Julio. »So viel Verstand hat jeder Indio, nicht im Maul des Jaguars hocken zu bleiben. Ich werde mich umhören. Aber Sie sollten weg, Señorita. Wenn el doctor Sie nicht mehr beschützt, könnte es ungemütlich für Sie werden.«
Alice nickte. Sie war sich sicher, dass Dr. Scarsdale ihr eine Rückreise nach Tuxtla Gutiérrez ermöglichen würde, von wo aus sie einen Weg zu einem Hafen finden könnte. Sie konnte Mexiko verlassen, trotz ein paar blauer Flecke und Schrammen. Der Mord an Patrick würde nicht aufgeklärt werden. Aber wer konnte schon sagen, ob es ihr hier in Palenque jemals gelingen würde? Von Ix Chel fehlte weiterhin jede Spur. Martin hatte sie in aller Deutlichkeit fühlen lassen, welche Gefahren dieses Land barg. Warum also sollte sie es nicht verlassen?
Es gab keinen Grund, aber alles in ihr sperrte sich dagegen, so einfach aufzugeben. Sie drückte Mariana an sich und warf Julio einen betrübten Blick zu. Den Hund würde sie hoffentlich nach Berlin mitnehmen können, denn sie
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