Der Duft des Regenwalds
nicht.«
Er lachte leise.
»Danach wirst du in jedem Indio-Dorf vergeblich suchen. Aber in den Büschen hier ist es sauberer als in so mancher Toilette, die ich in Ciudad de México gesehen habe. Übrigens, in diesem Palast in Palenque, da habe ich ein Loch im Boden entdeckt und mich gefragt, ob meine Vorfahren nicht auch so etwas wie Toiletten kannten.«
»Bei einem Fürstenhof würde ich davon ausgehen«, erwiderte Alice. »Und du denkst jetzt sicher, dass diese Toiletten viel sauberer waren als alle, die du in der modernen Hauptstadt gesehen hast.«
Sie grinste ihn verschmitzt an.
»Ich habe keine Ahnung«, gab er zu. »Aber wir waschen uns so oft wie möglich. Reinlichkeit ist uns wichtig.«
Alice erinnerte sich an das Schwitzbad, das sie damals in dem Dorf nahe der Hazienda der Bohremanns gesehen hatte.
»Dann zeig mir jetzt, wo ich das hier auch tun kann.«
Er nickte und sagte einige Worte zu der alten Ix Chel, die gerade gemeinsam mit ihren zwei Enkelinnen einen schlichten Webstuhl aufbaute. Er bestand aus vier Pfosten und zwei Balken, zwischen denen sie Fäden zu spannen begannen. Alice bewunderte deren Farbenpracht. Vielleicht konnte sie irgendwann herausfinden, aus welchen natürlichen Stoffen diese Farben gewonnen wurden.
Die Alte antwortete ohne Zögern. In den schmalen Augen blitzte Belustigung auf, als sie von Andrés zu Alice blickte und wieder zurück.
Sie weiß es, schoss es Alice durch den Kopf. Er versucht, es vor allen Leuten hier zu verbergen, aber sie hat schon längst begriffen, was uns verbindet.
»Sie sagt, dass gleich hinter der Hütte ein Bach fließt«, erklärte Andrés. »Und … und dass …«
»Ja, was hat sie noch gesagt?«
»Dass sie mit den Mädchen nach draußen gehen wird, um im Freien zu weben, denn da haben sie besseres Licht.«
Er senkte verlegen den Blick, bevor er fortfuhr: »Und dass die Hütte dann eine Weile leer sein wird. Also, wenn du dich gewaschen hast, dann … dann kannst du dich hier in Ruhe umziehen.«
»Aber ich habe doch gar nichts zum Umziehen dabei. Viel konnte ich nicht mitnehmen, denn sonst hätte Dr. Scarsdale Verdacht geschöpft.«
Ermutigt von den Blicken der Alten, wagte sie, Andrés spielerisch anzustupsen. Seine kupferne Gesichtsfarbe wurde ein wenig dunkler, doch er führte Alice schweigend hinaus zum Bach, wo er ihr den Rücken zuwandte, als sie sich wusch. Vermutlich fürchtete er, dass sie von den Frauen des Dorfes beobachtet wurden. Alice bemerkte nur ein paar Hühner, die in der Nähe des Baches herumspazierten. Die Dorfbewohner hatten sich bereits auf den umliegenden Maisfeldern verteilt, wo sie zwischen den hohen Pflanzen bis zu den Hüften verschwanden und reife, goldgelbe Kolben in Säcke packten. Ein paar Mädchen fütterten die Hühner mit Körnern. Ställe gab es hier offenbar nicht, denn auf dem Rückweg zur Hütte stolperte Alice fast über ein kleines Schwein, das ihr vor die Füße gelaufen war. Empört quiekend, gesellte es sich wieder zu seinen Geschwistern, die sich auf der Erde wälzten. Ein Stück daneben sah Alice die alte Ix Chel mit ihren Enkelinnen das Schiffchen an dem Webstuhl herunterziehen. Gern hätte sie bei dieser Arbeit länger zugesehen, denn das Weben von Stoffen schien ihr eine faszinierende Tätigkeit, doch der Wunsch, mit Andrés in die leere Hütte zu gehen, war dringlicher. Sobald die Tür hinter ihnen zugefallen war, schlang er die Arme um sie, wagte aber nicht mehr, als über ihren Rücken zu streichen.
»Dieses Dorf, das ist fast wie bei mir zu Hause«, flüsterte er in ihr Ohr.
»Und dort verhielten sich alle Leute stets vorbildlich keusch?«
Sie lächelte ihn an. Allmählich begann sie seine Zurückhaltung rührend zu finden.
»Nein … nein, das natürlich nicht. Aber wenn Männer eine Frau verführten, die nicht die ihre war, so sahen sie nichts weiter als eine Trophäe in ihr. Leute redeten darüber, denn sonst geschah nicht viel Aufregendes. Es gab Kämpfe zwischen dem Verführer und dem Ehemann, der seine Frau vorher natürlich verprügelt hatte. All das schien mir immer so … so erbärmlich. Ich fragte mich, ob mein Volk nichts Vernünftigeres tun kann, als sich wegen solcher Kleinigkeiten gegenseitig die Schädel einzuschlagen.«
»Ich fürchte, in dieser Hinsicht sind andere Völker auch nicht besser«, erwiderte Alice und schob ihre Finger in sein schwarzes, kräftiges Haar. »Und ich habe keinen Ehemann, der dich und mich verprügeln würde. Glaubst du wirklich, das ganze
Weitere Kostenlose Bücher