Der Duft des Regenwalds
nachdenken«, erwiderte Dr. Scarsdale schließlich höflich. »Gehen Sie bitte wieder in die Hütte zurück. Sie verstehen hoffentlich, dass ich Sie weiter bewachen lassen muss.«
Alice nickte, denn etwas anderes blieb ihr nicht übrig.
»Kann Señor Uk’um gleich mitkommen?«, fragte sie höflich. Sobald sie mit Andrés in der Hütte saß, war die schlimmste Gefahr für eine Weile gebannt, und sie konnten in Ruhe ihre Lage besprechen.
»Nein«, erwiderte der Archäologe entschieden. »Ich brauche ihn hier, damit die Grabungen endlich weitergehen.«
Noch bevor sie etwas erwidern konnte, hörte sie, wie Andrés dem zustimmte, obwohl er nicht nach seiner Meinung gefragt worden war. Sie begriff, dass die Botschaft in erster Linie ihr galt. Sie sollte einfach wieder in die Hütte gehen, ohne Dr. Scarsdale weiter zu widersprechen. Gehorsam wandte sie sich um, aber Martin versperrte ihr den Weg.
»Was ist mit dem Jungen?«, fragte er Dr. Scarsdale und packte Julio dabei so hart an den Schultern, dass dieser zu wimmern begann. Der Archäologe streifte die beiden nur mit einem Blick.
»Der ist unwichtig. Mach mit ihm, was du willst.«
Wieder blitzte es in Martins Augen. Alice begann zu frösteln. Als er ihr grinsend ins Gesicht blickte, begriff sie, dass, was auch immer jetzt geschehen würde, in erster Linie für sie bestimmt war. Sie schnappte nach Luft, wollte dem Archäologen vorschlagen, ihr Julio wieder als Diener zu geben, da sah sie, wie Martin ihn in die Höhe hievte und zu den Stufen trug. Entsetzt schrie sie auf. Im selben Moment stürmte Andrés los, wurde aber von zwei Capataces zurückgerissen. Verzweifelt zerrte sie an Martins Schultern. Er schüttelte sie einfach ab wie ein lästiges Insekt. Julio stürzte mit weit aufgerissenen Augen die Pyramide hinunter, ohne dabei auch nur einen Laut auszustoßen, als sei er es gewöhnt, dass Männer wie Martin mit ihm verfuhren, wie es ihnen beliebte. Ein dumpfer Schlag hallte nach oben, als er auf einer der Stufen aufprallte und liegen blieb. Er war nicht bis auf den Boden gefallen, stellte Alice erleichtert fest, doch dort wäre er weicher gelandet.
»Julio!«, rief sie und starrte auf sein Gesicht. Ein paar Blutflecken waren auf den steinernen Stufen zu erkennen. Der Junge rührte sich nicht mehr, und etwas an seiner Haltung ließ nur eine Schlussfolgerung zu. Der letzte Rest an Selbstbeherrschung, zu der Alice noch fähig gewesen war, brach unter einem Sturm aus Zorn, Entsetzen und Schuldgefühlen zusammen.
»Mörder!«, schrie sie auf Deutsch, stürmte dann aber nicht auf Martin los, der bereits breitbeinig einen solchen Angriff erwartete, sondern sprang Dr. Scarsdale an. Sie hatte recht gehabt, er war nur ein schmächtiger Mann, dem es noch mehr vor körperlicher Gewalt grausen musste als ihr selbst, denn er unternahm nur sehr zaghafte Versuche, ihre Handgelenke festzuhalten, während sie ihn schlug und kratzte. Doch bald schon wurde sie in die Höhe gehoben und von dem Archäologen weggezerrt. Es tat ihr gut zu sehen, dass Blut aus seiner Nase floss.
»Das reicht jetzt, Jefe. Lass mich die bruja erledigen«, sagte Martin und schleppte sie ebenfalls zu den Stufen, ohne die Zustimmung von Dr. Scarsdale abzuwarten.
»Vergessen Sie nicht, was das für Folgen haben könnte!«, hörte sie Andrés rufen. Auf Englisch, damit keiner der Capataces ihn verstehen und sich einmischen konnte. Während der Abgrund immer näher rückte, staunte sie wieder einmal, wie scharf der Verstand ihres Geliebten war.
Dr. Scarsdale sagte nichts. Sie hörte Andrés laut aufstöhnen und wusste, dass er gewaltsam daran gehindert worden war, Martin aufzuhalten. Die spitzen Kanten der Stufen erstreckten sich bis zum grasbewachsenen Boden hinab, der weit entfernt schien. Sie sah Julios Leichnam und ahnte, dass sie schon bald neben ihm liegen würde. Erstaunlicherweise konnte auch sie nicht schreien. Warme Flüssigkeit floss plötzlich über ihre Schenkel. Sie begriff, was geschehen war, und staunte, dass sie sich so kurz vor ihrem Tod noch dafür schämte.
Etwas regte sich dort unten. Sie glaubte, Reiter auf Pferden zu erkennen, hielt das jedoch für eine Phantasie. Als sie die Augen schloss, sah sie Ix Chels Gesicht, dann tauchte wieder jene vornehme, unzufriedene Indianerin mit der Kette auf. Sie verstand nicht, warum Patrick sich nicht zeigte. Vielleicht wären sie bald schon wieder vereint.
Oder sie würde einfach aufhören zu existieren, denn so hatte sie den Tod immer
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