Der Duft des Regenwalds
gesehen. Ein Verschwinden im Nichts. Das Ende des Bewusstseins. Schwärze und Leere. Falls dies nicht stimmte, würde sie es bald erfahren.
Ein ohrenbetäubender Knall erschütterte die Ruine. Alice riss die Augen wieder auf. Unter ihr sackte Martin zusammen. Sie entglitt seinem Griff und fiel. Alles verlief erstaunlich langsam, als sei die Zeit stehen geblieben. Sie lag auf einer Stufe und versuchte, sich an der Kante über ihr festzuhalten, doch der Schwung war zu heftig, und sie rollte weiter. Sie verspürte den Aufprall als dumpfen Schlag in ihrem Rücken, als sie auf der nächsten Stufe landete, von der aus es weiter abwärtsging. Es war übel, was mit ihr geschah, doch es war nicht aufzuhalten. Ihre Hände, die nach Halt suchten, griffen weiter ins Leere. Ein Sturz folgte dem nächsten. Sie hörte Schreie. Andrés kam die Stufen herabgeeilt, ohne aufgehalten zu werden. Unten brüllte jemand: »Que pasa?« Plötzlich lag sie auf dem Rücken, und die Sonne brannte auf sie herab. Dann setzte der Schmerz ein. Unsichtbare Messer bohrten sich in ihren Körper, der an Stellen wehtat, die sie noch nie bewusst gespürt hatte. Sie versuchte, sich aufzurichten, doch war sie ein zerschlagenes Bündel aus Fleisch und Knochen, dem jede Kraft fehlte. Aber sie lebte.
»Alice, Gott sei Dank«, rief Andrés. Sie schrie gequält auf, als er sie in die Höhe hob, stellte aber fest, dass sie sich mit seiner Hilfe aufrecht halten konnte.
»Was ist geschehen?«, fragte sie.
»Martin wurde erschossen, aber er stand schon so nah an der Treppe, dass du trotzdem heruntergefallen bist. Aber du hattest Glück, denn du scheinst nicht schwer verletzt zu sein. Ich glaube, wir sind gerettet.«
Weiter unten hörte sie Schritte. Männer mit Pistolen in den Händen stürmten heran, angeführt von einem hochgewachsenen Mann, der vor Alice stehen blieb.
»Madre de dios, was ist hier passiert?«, wollte Juan Ramirez wissen, doch Alice fühlte sich außerstande, seine Frage zu beantworten.
»Dr. Scarsdale«, flüsterte sie, »er darf nicht weglaufen. Haltet ihn auf.«
Gestützt von beiden Männern, gelang es Alice, den Tempel zu erreichen.
»Was ist mit Julio?«, fragte sie Andrés, sobald sie, an einen Pfeiler gelehnt, saß.
»Ich sehe gleich nach ihm. Erzähle inzwischen, was wir herausgefunden haben und warum du die Treppe hinabgestürzt bist.«
Er nickte Juan Ramirez kurz zu, dann verschwand er. Alice musterte die eleganten Gesichtszüge und den glatt polierten Schnurrbart ihres ersten mexikanischen Liebhabers. Sie hatte ganz vergessen, wie gut er aussah, doch sein Anblick weckte nur eine Mischung aus Verlegenheit und Erleichterung in ihr. Als er sanft über ihr Gesicht strich, wollte sie zunächst zurückweichen, aber die tröstende Berührung war angenehm, denn sie fühlte sich wie eine verdreckte, zerbrochene Gliederpuppe.
»Dr. Scarsdale hat meinen Bruder getötet, doch so, wie er es schildert, muss es ein Unfall gewesen sein. Er hat nicht gesagt, was dann geschah, wer Patrick das Herz … wo ist Dr. Scarsdale?«
Sie drehte sich um. Die bewaffneten Männer hatten sich im Tempel verteilt. Die Capataces leisteten keinerlei Widerstand, sondern sprachen mit den Neuankömmlingen, um ihnen eine Zusammenarbeit anzubieten. Aber Dr. Scarsdale war noch hier. Er zerrte Ricardo in eine Ecke des Tempels, um ihm einen Revolver an die Schläfe zu halten. Alice unterdrückte einen Schrei. Warum ließ sie sich immer wieder von dem harmlosen Äußeren des Gelehrten täuschen?
»Wenn mir jemand zu nahe kommt, dann ist der Junge tot«, zischte er. Gelächter erklang.
»Ein dreckiger Indio mehr oder weniger, was macht das schon?«
Alice fuhr auf, obwohl diese Bewegung wie Hunderte Messerstiche schmerzte.
»Nein! Es soll kein Kind mehr sterben!«
Juan Ramirez brüllte einen Befehl, und der Archäologe wurde in Ruhe gelassen, doch er saß weiterhin in der Falle. Über Ricardos Gesicht flossen Tränen, denn nun stand er plötzlich auf der falschen Seite und könnte ebenso wie Julio mit dem Leben bezahlen müssen. Eine Weile blieb es still. Dr. Scarsdales Gesicht glänzte vor Schweiß. Er sah so verwirrt und ratlos aus, als wäre er hier das eigentliche Opfer.
»Ich wollte nicht, dass jemandem ein Leid geschieht«, wiederholte er. »Es war ein Unfall. Ich sah, dass Patrick Wegener tot war. Danach bekam ich Panik und lief fort. Es tut mir leid. Aber ein Mörder bin ich nicht.«
»Das hätten Sie gleich erzählen sollen«, sagte Juan Ramirez. »Und
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