Der Duft des Regenwalds
sondern auch einen Jungen, der in ihrem Auftrag losgezogen war.
So blieb sie stehen und sah zu, wie Martin Julio die Stufen emporschleppte. Aus der Nase des Jungen floss Blut, aber ansonsten wirkte er unversehrt. Vielleicht konnte sie Dr. Scarsdale davon überzeugen, dass all dies ein harmloser Zufall war.
»Mein persönlicher Diener!«, rief sie und war bemüht, Staunen vorzutäuschen. »Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich mit Andrés in den Dschungel aufbrach.«
Sie stellte sich mitten im Tempel der Inschriften auf und sah Julio ins Gesicht. Gern hätte sie ihn beruhigend angelächelt, wagte es aber nicht.
»Hast du dich hier im Dschungel versteckt, weil du nicht wusstest, wo du hingehen sollst?«
»Sí, Señorita«, erwiderte er leise. Seine braunen Augen waren riesig und angsterfüllt. Spontan streckte sie die Hand aus, um das Blut von seinem Gesicht zu wischen, aber Dr. Scarsdale schob sie weg.
»Das ist jetzt nicht der Moment für Sentimentalitäten. Hast du den Jungen durchsucht?«
Martin nickte knurrend.
»Das habe ich gefunden.«
Er hielt Dr. Scarsdale den Brief entgegen, den Alice an Hans Bohremann geschrieben hatte. Kurz schloss sie die Augen und sehnte die Fähigkeit herbei, sich aus einer unerträglichen Lage wegzuträumen. Dennoch spürte sie Andrés’ fragenden Blick, konnte ihm aber nichts erklären.
Sie staunte, wie ruhig sie blieb, als Dr. Scarsdale das Papier entfaltete und mit gerunzelter Stirn überflog. Eine Ewigkeit verging, während er auf ihre Schriftzüge starrte. Sie spürte Martins verächtlichen Blick auf sich ruhen und hörte Julio leise wimmern, während Ricardo ein wenig ratlos auf den gleichaltrigen Jungen starrte. Das also geschah, wenn man sich auf die falsche Seite schlug, musste er wohl denken.
Andrés sah weiterhin in ihre Richtung. Er schwieg, doch sie war sich sicher, dass er bereits begriffen hatte, in welch übler Lage sie sich nun befanden. Obwohl sie verzweifelt nach einer Möglichkeit suchte, wie sie Dr. Scarsdale die Botschaft an Hans Bohremann erklären konnte, fiel ihr keine rettende Notlüge ein. Ihre einzige Hoffnung war, dass er die deutsche Sprache nicht gut genug beherrschte, um ihr Schreiben richtig zu verstehen. In dem Moment, als er das Papier sinken ließ und seine farblosen Augen in ihre Richtung starrten, wusste sie, dass sie verloren war. Das Atmen fiel ihr plötzlich leichter, nun, da sie keine andere Wahl mehr hatte, als auf ihr Ende zu warten.
»Sie haben mich belogen, Miss Wegener«, stellte der Archäologe völlig nüchtern fest.
Ein Lachen drang aus ihrer Kehle, wurde lauter und hysterischer, obwohl sie das nicht wollte.
»Ich glaube nicht, dass Sie es sich erlauben können, mir Lügen vorzuwerfen. Seit ich in Veracruz angekommen bin, haben Sie mir ein Märchen nach dem anderen aufgetischt.«
Der Zorn war befreiend und machte es auf einmal leicht, sich ihrer Lage zu stellen. Wer war dieser vertrocknete Professor denn schon? Ein unscheinbarer Mann, der nicht über besondere Kraft verfügte. Vielleicht wäre sie sogar in der Lage, mit ihm fertig zu werden. Erst Martins Knurren erinnerte sie wieder daran, wie viele andere, weitaus kräftigere Männer hier seinem Befehl unterstanden.
»Sollen wir sie wieder einsperren, Jefe?«, fragte Martin. Alice sah seine Augen aufblitzen, denn nichts schien ihm größere Freude zu bereiten als die Aussicht, sie quälen zu können. Nun kam die Angst. Der Schweiß floss in Bächen über ihren Körper, und es fiel ihr schwer, sich auf den Beinen zu halten. Die Enge des Tempels schien ihr plötzlich bedrohlich und finster. Sie sehnte sich nach Licht.
»Ich weiß es nicht«, hörte sie Dr. Scarsdale murmeln. »Was soll ich jetzt mit Ihnen tun?«
Es klang wie eine ehrlich gemeinte Frage. Er musterte Andrés, dann Alice, als erhoffe er sich von ihnen eine Antwort.
»Wir gehen einfach fort«, schlug Andrés vor. Er sprach so ruhig und vernünftig wie bei seinen früheren Unterhaltungen mit dem Archäologen. »Sie führen hier die Grabungen weiter. Es gibt kaum eine Möglichkeit, wie wir Ihnen schaden könnten.«
Alice atmete auf. Ähnliches hatte sie dem Archäologen bereits gesagt, und es war nicht ausgeschlossen, dass er sich überzeugen ließe. Im Augenblick fiel ihr tatsächlich nichts ein, das sie gegen ihn unternehmen könnte. Es schien unwichtig geworden zu sein, denn der Wunsch zu überleben war weitaus stärker als jedes Verlangen, ihn für seine Taten büßen zu lassen.
»Ich muss darüber
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