Der Duft des Regenwalds
was hatten Sie damals in San Cristóbal mit der Señorita vor?«
Der Archäologe riss fassungslos die Augen auf.
»Ich habe den Mann aufgetrieben, den Sie bezahlten, damit er Alice nach dem Begräbnis ihres Bruders in die Falle lockte«, fügte Juan Ramirez hinzu. »Sie wollten sie gefangen nehmen. Und was sollte dann geschehen?«
Alice starrte von einem Mann zum anderen. Sie vermutete, dass ihr Gesichtsausdruck dem des Archäologen ähnelte, denn sie war ebenso entsetzt.
»Nichts. Gar nichts«, stammelte Dr. Scarsdale und presste die Mündung des Revolvers noch fester an Ricardos Schläfe. »Die Leute sollten sie nach ein paar Tagen wieder laufen lassen. Ich wollte, dass sie einen richtigen Schrecken bekommt, nichts weiter. Damit sie endlich nach Hause fährt.«
Sein zorniger Blick streifte Alice.
»Ich dachte niemals, dass diese feine Dame sich freiwillig bis nach Chiapas wagen würde. Spätestens in der Sierra Madre hoffte ich, dass sie genug hat und aufhört, ihre Nase in diese Angelegenheit zu stecken. Ich wollte nicht, dass noch ein Unglück geschieht, verflucht!«
»Dann legen Sie jetzt die Waffe nieder und lassen den Jungen los«, erwiderte Juan Ramirez mit einer Entschiedenheit, die Alice ihm niemals zugetraut hätte.
Dr. Scarsdales Gesicht zuckte, und sie fürchtete, er würde Ricardo in einem Anfall von Zorn und Verzweiflung erschießen, doch er kam der Aufforderung nach einigem Zögern nach. Ricardo rannte sofort zum Ausgang des Tempels, wo zwei Männer ihn zurückhielten. Der Archäologe ging langsam auf Juan Ramirez zu.
»Sie sehen, ich bin vernünftig. Ich hätte gleich reden sollen, aber das Erlebnis war zu verstörend … ich hatte Angst, in Schwierigkeiten zu geraten, weil ich den Leichnam einfach liegen ließ. Ich hoffe, wir können uns einigen, denn ich glaube, dass ich hier kurz vor einer wichtigen Entdeckung stehe.«
Seine Augen blitzten auf, dann wandte er sich an Alice und lächelte. Ihr Magen verkrampfte sich.
»Ihr Sturz, Miss Wegener, ist ebenfalls ein tragisches Missgeschick gewesen. Martin handelte ohne mein Einverständnis. Es ging alles so schnell, ich konnte es nicht verhindern. Bitte akzeptieren Sie meine Entschuldigung. Glücklicherweise haben Sie überlebt.«
Alice schnappte vor Zorn nach Luft, doch sie fand keine passenden Worte, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen. Plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie packte Dr. Scarsdale am Ärmel.
»Sie haben meinen Bruder nicht liegen lassen. Sie hoben ihn aufs Pferd und nahmen ihn mit. Warum lügen Sie schon wieder?«
Nun wirkte Dr. Scarsdales Gesicht plötzlich nackt, als sei er nicht mehr in der Lage, seine Fassungslosigkeit zu verbergen.
»Woher …?«
»Von Ix Chel, die alles beobachtet hat.«
Dr. Scarsdale schluckte, dann straffte er die Schultern, lächelte auf eine fast triumphierende Weise und stellte sich so dicht vor sie hin, dass sie seinen Schweiß riechen konnte.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich dazu in der Lage wäre. Ich hatte natürlich darüber gelesen, es gab sogar Augenzeugenberichte der Konquistadoren, die genau beschrieben, wie die Priester der Azteken lebenden Menschen das Herz herausschnitten. Ich wusste, es konnte meine Rettung sein, dieses Ritual durchzuführen. Patrick war tot. Ich hatte zunächst gehofft, ein Arzt könne ihn retten, aber dann merkte ich, dass es zu spät war. Die Señora Bohremann wusste, dass ich ihm nachgeritten war, denn sie hatte mir von seinem Vorhaben erzählt, das ihr sehr missfiel. Die ganze Arbeit wäre umsonst gewesen, Hans Bohremann hätte mir seine Unterstützung entzogen, und von Patricks Familie hätte ich kein Geld mehr bekommen, wenn ich in Verdacht geriet, seinen Tod verursacht zu haben. Aber wenn er auf eine Art starb, die so eindeutig indianisch war, dann konnte mich niemand verdächtigen. Ich musste es tun, verstehen Sie? Zuerst dachte ich, dass ich nicht dazu in der Lage wäre. Doch es war … sogar recht einfach. Und ich ahnte, was diese Priester fühlten – nämlich gar nichts. Es war einfach eine Sache, die sie taten, weil sie es tun mussten.«
Alice vermochte sich nicht zu rühren. Ein Schrei steckte in ihrer Kehle fest, an dem sie zu ersticken drohte. Auch Juan Ramirez schwieg, als fehlten ihm die Worte, um das Geständnis des Archäologen zu kommentieren.
»Alice, er atmet noch!«, hörte sie plötzlich Andrés rufen und blickte in die Richtung, aus der seine Stimme kam. Den reglosen Julio in den Armen, kämpfte er sich die hohen Stufen hoch und wollte
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