Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate
du angeblich besessen bist?«
» Ich kann nicht mehr als Arzt arbeiten.« Er hob eine Hand und sah sie an wie einen Feind. » Weil ich mich nicht länger in der Lage sehe, die Verantwortung für das Leben anderer Menschen wahrzunehmen.« Er sah mich mit gequältem Ausdruck an. » Ich kann höchstens noch beraten. Eine Zeit lang. Mein Leben ist vorbei. Ich habe gesehen, was die Krankheit bei meinem Vater anrichtete. Das Gleiche steht nun mir bevor. Ich habe Huntington-Chorea.«
Der Name sagte mir gar nichts.
Ich machte einen Schritt auf ihn zu. » Das mit deiner Krankheit bedaure ich, Etienne. Aber du hättest es mir sagen müssen. Es bestand kein Grund, mich ohne ein Wort zu verlassen. Ich hätte doch Verständnis für deine Lage gehabt.«
» Ich hätte Verständnis für deine Lage gehabt«, äffte Manon mich nach. Ihre Stimme klang hoch und albern, aber da war auch etwas Dunkles darin.
»Können wir woanders hingehen?« Mein Blick streifte sie flüchtig, ehe ich ihn wieder auf ihn heftete. »Irgendwohin, wo wir uns in Ruhe unterhalten können? Unter vier Augen? Hast du mir denn nichts zu sagen? Etwas über uns? Unsere Zeit in Albany?«
» Diese Zeit ist vorbei, Sidonie. Du und ich in Albany, das war einmal.«
Ich wollte nicht, dass Manon mehr von unserem Gespräch mitbekam; ich wollte nicht, dass sie hörte, was wir uns zu sagen hatten. » Manon, los geh ins Haus«, sagte ich barsch. » Kannst du uns nicht wenigstens einen Moment lang allein lassen?«
» Etienne?« Sie sprach seinen Namen betont langsam aus. » Willst du, dass ich gehe?«
Er sah sie an. » Ja, ich denke, es wäre besser.«
Warum behandelte er sie nur so rücksichtsvoll? Die Sache zwischen Etienne und mir hatte schließlich nichts mit ihr zu tun.
Unter dem Rascheln von Seide ging sie hinein. Als sie verschwunden war, setzte ich mich Etienne gegenüber auf das Sofa, zwischen uns der niedrige Tisch mit dem Messingtablett und der shisha. » Ich meine dich zu verstehen, Etienne. Als Manon mir von einer Krankheit erzählte, die von Vater zu Sohn weitergegeben wird, war mir noch nicht klar, was genau du hast. Die … wie heißt sie noch mal?«
»Huntington-Chorea«, sagte er leise und sah auf seine Knie hinab. »Oder Huntington-Krankheit. Sie bricht erst im Erwachsenenalter aus, um das vierzigste Lebensjahr herum, weshalb man es oft erst bemerkt, wenn man bereits Kinder gezeugt hat. Die Chance, die Krankheit weiterzuvererben, beträgt fünfzig Prozent.«
Eine Weile saßen wir schweigend da. Meine Hand hatte dunkle Abdrücke auf seinen aschfahlen Wangen hinterlassen.
» Paranoia, Depression«, fuhr er fort. » Spastische Zuckungen. Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen. Verschliffene Aussprache. Lähmungen. Demenz. Und schließlich …« Er vergrub das Gesicht in den Händen.
Ich blickte auf seinen Kopf hinab, wie ich einen Tag zuvor Aszulays Kopf betrachtet hatte, als er mir die Füße wusch. Ein Anflug von Mitleid durchströmte mich.
» Es tut mir leid, Etienne. Und nun weiß ich auch, warum du mich verlassen hast. Weil du nicht wolltest, dass ich zuschauen muss, wie du leidest. Ich weiß, dass du dieses Leben einer Frau nicht zumuten wolltest. Und deinem Kind. Aber genau das ist es, was Liebe ausmacht. Was Menschen zueinander stehen lässt, gleich, was passiert.«
Er hob den Kopf und sah mich an. Seine Augen waren dunkel und ausdruckslos. Ich hätte so gern gewusst, was er dachte. War sein Gesicht schon immer so verschlossen gewesen?
» Aber mich ohne ein Wort zu verlassen, Etienne. Dass du nicht einmal den Versuch unternommen hast, es mir zu erklären … Nun, das verstehe ich nicht.« Ich sprach in ruhigem Ton. Vernünftig.
Er senkte den Blick wieder. » Ich war einfach feige«, sagte er, und ich nickte, mehr um ihn zum Weitersprechen zu ermuntern. Aber was wollte ich von ihm hören? » Und äußerst respektlos dir gegenüber. Das weiß ich, Sidonie, aber …«
Aber was? Sag, dass du mich beschützen wolltest. Sag, dass du es aus Liebe tatest. Doch während ich diese Worte im Geiste formte, wusste ich, dass es zwar Menschen geben mochte, die so ehrenhaft waren, sich zurückzuziehen, um ihre Liebsten vor Unglück zu bewahren, doch Etienne zählte gewiss nicht dazu. Etienne war kein Mann von Ehre. Er war, wie er gerade zugegeben hatte, ein Feigling.
» Ich habe diese lange Reise nach Nordafrika angetreten, um dich zu finden, Etienne. Daran erkennst du, wie sehr ich an dich geglaubt habe. An dich und an mich. Ich musste dich
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