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Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate

Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate

Titel: Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Holeman
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stattdessen den Meeresgeruch wahrnehmen.
    Der Anstieg hatte mich angestrengt; nach vorn gebeugt und die Hände auf den Knien, ruhte ich mich aus. Doch als ich mich wieder aufrichtete, drohte mir der Ausblick erneut den Atem zu rauben. Auf der einen Seite lag das im Sonnenlicht glitzernde Meer, und auf der anderen sah ich Berge. Das herrliche Rif-Gebirge, das die untergehende Sonne blutrot färbte.
    In der leichten Brise stand ich da und betrachtete Tanger, das mich umgab und dessen Gebäude im späten Nachmittagslicht in leuchtendem Weiß erstrahlten. Ungewohnt zarte Bäume mit großen Blättern und Palmen in vielfältigen Grünschattierungen standen dazwischen. Die Klarheit der Farben im Spiel des Lichts gemahnte mich an großartige Kunstwerke – die Farben waren nicht Blau und Rot und Gelb und Grün, sondern Himmelblau, Indigoblau, Zinnober und Purpurrot, Bernstein, Safrangelb und Seladongrün, Olive und Lindgrün.
    Mein Bein schmerzte, also blickte ich mich nach einer Sitzmöglichkeit um, aber es gab nur den schmalen Dachvorsprung. Jetzt verstand ich die Warnung des Jungen, ein falscher Schritt führte in den Abgrund. War vielleicht jemand, möglicherweise jemand aus Elizabeths Clique, nach zu vielen Gläsern Alkohol hier heraufgekommen und in den Tod gestürzt?
    Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder, und jedes Mal verspürte ich aufs Neue einen Nervenkitzel. Unwillkürlich dachte ich an Pine Bush, eine karge Sumpflandschaft nur wenige Kilometer von meinem Elternhaus entfernt, oder an den nahe gelegenen See – überhaupt an die Landschaft im Albany County. Ich hatte so viel Zeit in dieser Natur verbracht, war dort spazieren gegangen oder hatte Flora und Fauna gezeichnet. Meine Pflanzenaquarelle fielen mir ein, die gedämpften Nuancen von Grün der schattenliebenden Farne und Moose, das zarte Lavendel des Ehrenpreis, das schüchterne Rosa des Frauenschuhs, der bescheidene Dreiblatt-Feuerkolben. Aber das hier! Mit den Farben in dem Kasten, der im Regal meines Schlafzimmers in dem kleinen Haus jenseits des Ozeans lag, würde ich niemals derlei kräftige Töne hervorzubringen vermögen.
    Als der Schmerz in meinem Bein abklang, ging ich langsam zum Ende des Daches und spähte in das schattige Straßenlabyrinth hinab. Das musste die Medina sein, die Altstadt mit ihrem schwindelerregenden Menschengewühl. Laute Rufe mischten sich mit Eselsschreien und Hundegebell und dem gelegentlichen Brüllen eines Kamels.
    Und dann war da ein Laut, den ich noch nie zuvor gehört hatte, eine hohe und doch kräftige Stimme, die von hinten kam. Ich drehte mich um und sah die Spitze eines Minaretts, und da wusste ich, dass es der Muezzin war, der die gläubigen Muslime zum Gebet rief. Plötzlich ließ sich eine weitere Stimme vernehmen und noch eine und einige mehr – der Ruf der Muezzins sämtlicher Minarette Tangers. Ich stand auf dem Dach und lauschte den volltönenden, rhythmischen Gebetsrufen – Allahu akbar, oder etwas in der Art –, während ich die rot gefärbten Berge betrachtete.
    Ob Etienne jetzt die gleichen Laute hörte? Erblickte er jetzt ebenfalls den Himmel, die Berge, das Meer? Dachte er an mich, zu dieser einsamen Stunde, so wie ich an ihn?
    Ich musste die Augen schließen.
    Als die letzten Stimmen verebbten, herrschte schlagartig Stille, und ich schlug die Augen wieder auf, um dem Nachhall dieser fremdländischen Stimmen in meinem Inneren zu lauschen. Wieder einmal versank ich in meine alte Gewohnheit des Grübelns, ohne einen klaren Gedanken zu fassen.
    Schließlich stieg ich wieder die schmale Treppe hinab, wo noch immer ein übler Geruch in der Luft hing. Ich war schrecklich hungrig und ging in die Lobby zurück.
    Während ich mich der Lounge näherte, hörte ich Lachen und ausgelassene, lautstarke Stimmen, die mir sagten, dass Elizabeth und ihre Freunde noch immer dort waren. Die Lounge wirkte dunkel und verschwommen, form- und farblos nach der grandiosen Schönheit, die ich soeben erblickt hatte. Sowohl Gebet als auch Farben hatten mich berührt. Und als ich an der Loungetür vorbeiging, war mir, als hielten Elizabeth und Marcus und die anderen an ihrem Tisch beim Trinken und Reden inne und starrten mich verwundert an. In dieser kurzen Zeit auf dem Dach hatte mich das Gefühl bemächtigt, Teil des Mosaiks von Tanger geworden zu sein, ein Fragment dieses Farb- und Klangteppichs.
    Doch niemand drehte sich nach mir um, niemand nahm Notiz von mir.
    Auf der weitläufigen Terrasse – auf der sonst niemand

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