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Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate

Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate

Titel: Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Holeman
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Zigmal in jenen ersten Wochen passierte es, gleich was ich tat oder wo ich mich gerade aufhielt, dass ich den Mund öffnete und ihn rufen wollte, um ihm etwas mitzuteilen, meist etwas ganz Banales, wie zum Beispiel, dass ich in der vergangenen Nacht eine Maus zwischen den Wänden hatte rascheln hören. Nur um mich dann zu erinnern, dass er nicht mehr da war, für immer gegangen war, und dass wir uns nie wieder austauschen würden, sei das Thema so bedeutungslos wie das Rascheln einer Maus oder gewichtig wie das einer weltweiten Krise.
    Und trotz allem konnte ich nicht weinen. Es lag an meinen Schuldgefühlen. Ich konnte mir nicht vergeben, was ich meinem Vater zugefügt hatte. Wenn ich geweint hätte, wäre es um meiner selbst gewesen, um mich zu trösten und zu besänftigen. Doch ich glaubte nicht, dass ich irgendeinen Trost verdient hatte.
    Eines Nachts, während ich das Sternenbild betrachtete, hatte ich eine Erleuchtung.
    Der Anblick des wolkenlosen Himmelsbandes über den kahlen Baumkronen jenseits der Straße war mir vertraut. Vorhersehbar. Nur eine winzige Mondsichel stand am Himmel, und verstreut blinkten ein paar Sterne. Ich machte Orion aus, Kassiopeia, den Nordstern, den Großen Bären. Sie waren immer da, wenn die Nacht klar war, wie alte Freunde. Während meines ersten Jahres der Kinderlähmung, das nun so lange zurücklag und in dem auf die anfängliche Hoffnungslosigkeit Bitterkeit und dann Resignation gefolgt waren, hatte ich die Sternbilder in Büchern studiert. Von meinem Bett aus konnte ich den Himmel nicht sehen, die Sternbilder waren damals nichts weiter als Konstellationen auf Papier gewesen.
    Und plötzlich kam mir der Gedanke, dass sich ein Großteil meines Lebens nur auf Buchseiten abspielte. Vielleicht war auch ich nur eine Figur auf Papier. Ein ausgeschnittenes Bild, eine Silhouette. Eindimensional.
    Bis dahin war ich immer davon ausgegangen, die Gestalt meines Lebens zu kennen. Natürlich nahm ich an, dass ich über das Leben Bescheid wusste, alles wusste, was ich wissen musste oder wollte. Doch nun war ein Loch in das solide Gebäude meines Weltverständnisses gerissen worden, ähnlich dem Vakuum, das entsteht, wenn ein brennender Stern von seinem Platz am Himmel fällt.
    Was hatte ich eigentlich für die Zukunft geplant, wenn ich einmal allein sein würde?, fragte ich mich mit einem Mal. Auch wenn der Tod meines Vaters zu früh gekommen war, so wäre er früher oder später unausweichlich eingetreten. Was für eine Zukunft hatte ich mir ausgemalt für den Fall, dass er einmal nicht mehr war und mich nicht mehr brauchte, um für ihn zu sorgen?
    Hatte ich gedacht, dass mein ruhiges, sicheres Leben wie ein Faden war, der sich durch mich hindurchzog und mich an die Erde band? Dass ich einfach immer so weiterleben würde – mich um Haus und Garten kümmern, botanische Bilder malen, in den dunklen Winternächten, wenn der Nordwestwind wehte, lesen und im Sommer durch die Landschaft spazieren würde –, im immergleichen vorhersehbaren Rhythmus der Sonne? Dass der Faden für immer halten würde?
    Doch nun, da ich wusste, dass er gerissen war, überkam mich eine riesige, dunkle Sehnsucht. Während ich auf der Veranda unter den kalten Sternen saß, erkannte ich, dass mich erst der Tod mein Leben oder meine Existenz, oder besser gesagt meine Nicht-Existenz, begreifen ließ. Mit einem Mal wurde mir bewusst, was mein Vater mir vor vielen Jahren hatte zu verstehen geben wollen, als er davon redete, ich solle in die Welt hinausgehen. Ich sah nun, wie klein, nein winzig mein Leben war; so winzig wie einer der Abermillionen von Sternen, die das diffuse Band der Milchstraße bildeten. Aber vielleicht war es sogar überheblich, mich mit dem kleinsten aller Sterne zu vergleichen; vielleicht, so sagte ich mir, wäre eines der Sternenstaubkörner, die ebenfalls die Himmelssphäre übersäten, eine angemessenere Bezugsgröße für mein Leben.
    Wieder rief ich mir in Erinnerung, was mein Vater für mich gewünscht hatte: meine Heirat und eine eigene Familie.
    Zwar hatte er es schon vor langem aufgegeben, davon zu sprechen, ich solle mir eine Arbeit suchen, doch nicht lange nach dem Tod meiner Mutter hatte er mir einen lästigen Vortrag über die besondere Beziehung zwischen Mann und Frau gehalten, die nicht durch Freundschaft oder familiäre Bindungen ersetzt werden könne. Dass man die Stärke dieses Bandes erst begreife, wenn es durch den Tod zerrissen werde. » Ich will nur, dass du es weißt, Sidonie«,

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