Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate
er hatte auch noch eines mit einer anderen Sorte Pillen gehabt, die er manchmal morgens genommen hatte, ehe er ins Krankenhaus fuhr. Um mir den langen Arbeitstag über die Konzentration zu erhalten, hatte er beiläufig erklärt. Doch diese Flasche hatte ich noch nie bei ihm gesehen.
Ich verstaute die Brille und das leere Medikamentenfläschchen in meiner Handtasche. Ich brauchte etwas, egal was, das Etienne gehört hatte. Dann lehnte ich mich auf dem Stuhl zurück und schloss in einem jähen Anflug von Erschöpfung und Verzweiflung die Augen.
Doch ehe ich nach Hause ginge, musste ich erst noch den anderen Raum betreten. Hier wehte ein beharrlicher Luftzug durch einen Riss im Schieberahmen. Bis auf das Bett, eine Ankleidekommode und einen Schrank war der Raum leer. Wieder untersuchte ich jede einzelne Schublade, ohne etwas zu finden. Auch der Schrank enthielt nichts. Doch gerade als ich mich wieder abwenden wollte, entdeckte ich ein Buch auf dem Schrankboden. Es war der Band über berühmte amerikanische Aquarellmaler, den ich Etienne zu Weihnachten geschenkt hatte. Mehr als einmal hatte er gesagt, dass er über die andere Seite des Lebens, die nichts mit Wissenschaft zu tun hatte, zu wenig wusste und er sich gern ein paar Kenntnisse angeeignet hätte.
Irgendwie überkam mich beim Anblick des zurückgelassenen – verlassenen – Buchs ein unbeschreiblicher Schmerz, und ich sank auf die Knie und starrte es an. Ich hob es hoch und fuhr mit den Fingern über den Einband. Nur wenige Seiten vom Anfang entfernt ragte am oberen Rand ein Stück Papier heraus, ein Lesezeichen, wie ich vermutete. Ich schlug das Buch an dieser Stelle auf und entdeckte ein kleines, gefaltetes Stück Papier, so dünn, dass die Schrift hindurchschimmerte.
Noch immer auf den Knien, schob ich das Buch aus meinem Schoß auf den Boden und faltete das Blatt auseinander. Es war zerknittert, als wäre es immer wieder zusammen- und auseinandergefaltet worden. Die zarte, mit feiner Federspitze geschriebene Handschrift war in Französisch und so delikat, dass sie vermutlich von einer Frau stammte. Ich starrte auf den Brief und hörte meinen flachen Atem. Ich spürte, wie sich unter meinen Achseln und am Rücken Schweiß sammelte und trotz der kalten Luft das Wollkleid an mir klebte.
Marrakesch, 3. November 1929
Mein lieber Etienne,
wieder einmal schreibe ich dir. Obwohl du auf keinen meiner Briefe geantwortet hast, flehe ich dich erneut und mit noch größerer Verzweiflung an, uns nicht im Stich zu lassen. Ich habe nie die Hoffnung aufgegeben, dass du dir nach all dieser Zeit – es sind nun mehr als sieben Jahre, seit du zuletzt zu Hause warst – ein Herz fassen und mir vergeben wirst. Ich weiß, dass du ein gutes und liebendes Herz hast …
Nie werde ich aufhören, dich anzuflehen, mein lieber Bruder. Bitte, Etienne, komm nach Hause, zu mir, nach Marrakesch.
Manon
Das Dünndruckpapier in meiner Hand zitterte heftig.
Manon.
Komm nach Hause, hatte sie geschrieben, nach Marrakesch.
Wieder sah ich auf den Brief hinunter. Mein lieber Bruder. Es sind nun mehr als sieben Jahre. Manon war seine Schwester … aber er hatte mir doch nur von Guillaume erzählt. Es gibt niemanden mehr in Marrakesch, hatte er gesagt.
Zu viele Geheimnisse. Zu viel, was ich nicht verstand. Hatten die dringenden Familienangelegenheiten, die er dem Krankenhaus als Grund für seine verfrühte Abreise genannt hatte, mit diesem Brief zu tun? Hatte er mich seiner Schwester willen ohne ein Wort verlassen – so wie er das Buch zurückließ?
» Haben Sie den Aktenkoffer gefunden?«, fragte eine Stimme, und als ich den Kopf drehte, erblickte ich ein Paar derbe Schnürschuhe. Ich sah zu ihr hoch.
Die Frau in dem braunen Kleid starrte mich an.
Den Brief umklammernd, stand ich auf. » Nein«, sagte ich und schob mich an ihr vorbei.
Während ich die Treppe hinabhumpelte und mich am Handlauf festhielt, um nicht zu stürzen, rief die Frau mir nach. » Wie war noch mal Ihr Name?«
Ich antwortete nicht, sondern ging durch die Tür hinaus, ohne sie zuzumachen.
Von einer unbändigen Verzweiflung getrieben, wollte ich nur noch nach Hause. Ich floh, als wäre eine Meute Bluthunde hinter mir her. Ich wusste nur noch, dass ich in der Sicherheit meiner vier Wände sein wollte, wo ich den Brief wieder hervorziehen und ihn wieder und wieder lesen konnte, um zu versuchen, irgendeinen Sinn darin zu entdecken.
Der Brief war mein einziges Bindeglied zu Etienne.
Etienne. Mehr als zuvor spürte
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