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Der Duft

Titel: Der Duft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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zu verbergen, sich zu verstellen. Sie galten als verschroben
     oder eigensinnig. Sie hatten Schwierigkeiten im Berufsleben, verloren oft ihren Job, versuchten nicht selten, ihre irrationale
     Angst mit Alkohol oder Tabletten zu bekämpfen. Viele landeten am Ende auf der Straße, sodass ein hoher Anteil der Obdachlosen
     unter einer Krankheit litt, die niemals diagnostiziert wurde.
    Maries Vater hatte sich damals natürlich schreckliche Vorwürfe gemacht. Er hatte sich die Schuld am Tod seiner Frau gegeben,
     obwohl ihm die Ärzte versichert hatten, der Selbstmord sei nicht aus Verzweiflung darüber geschehen, dass er sie in die Klinik
     eingeliefert hatte. Maries Mutter hatte sich nicht im Stich gelassen gefühlt. Im Gegenteil: Sie schien erleichtert gewesen
     zu sein, in der Klinik zu sein, wo sie »in Sicherheit« war. Doch irgendwann hatten »Stimmen« ihr befohlen, sich umzubringen,
     wie aus einem geheimen Tagebuch hervorging, das man nach ihrem Tod gefunden hatte.
    |352| Die Verzweiflung ihres Vaters hatte sich zunächst in Wut auf die Ärzte und die teure Privatklinik verwandelt. Trotz der offensichtlichen
     Suizidgefahr waren die Sicherheitsvorkehrungen eher lasch gehandhabt worden, und einer cleveren Frau wie Maries Mutter war
     es möglich gewesen, aus der Handtasche einer Pflegerin eine Nagelschere zu stehlen und sich damit die Pulsadern aufzuritzen.
     Später hatte er die Zivilklage gegen den verantwortlichen Chefarzt zurückgezogen, weil er eingesehen hatte, dass es unfair
     war. Der Arzt hatte alles getan, um seiner Frau zu helfen. Es hatte keinen Sinn, den Mann zu ruinieren, der selbst eine Frau
     und zwei Kinder hatte. Nichts konnte das verlorene Familienglück wiederherstellen.
    Die Jahre nach dem Tod ihrer Mutter waren hart gewesen. Doch das Verhältnis zwischen Marie und ihrem Vater war dadurch umso
     enger geworden. Dennoch hatte Marie ihm nie von der Stimme erzählt.
    Schizophrenie war erblich. Marie wusste, dass sie die Anlage dafür in sich trug. Wenn sie nicht Medikamente nehmen wollte,
     die ihre geistige Leistungsfähigkeit stark einschränkten, dann gab es nur einen einzigen Schutz: ihre Vernunft. Wenn sie nicht
     anfangen wollte, überall dieselben Gespenster zu sehen, die ihre Mutter schließlich in den Selbstmord getrieben hatten, dann
     durfte sie der Stimme niemals nachgeben. Nicht ein einziges Mal.
    »Mrs. Escher«, sagte Harrisburg eindringlich. »Wenn Sie uns nicht helfen, kann es niemand tun!«
    Sag es ihm, flüsterte die Stimme. Sag ihm, dass etwas nicht stimmt mit den Bildern, die du gesehen hast.
    Marie biss sich auf die Lippen. Sollte sie nachgeben, dieses eine Mal? Was, wenn die Stimme der Schlüssel war, um eine Katastrophe
     zu verhindern?
    »Ich … ich weiß nicht.« Merkwürdigerweise durchflutete sie eine Welle der Erleichterung. Die Stimme zu unterdrücken, |353| hatte sie mehr Kraft gekostet, als sie sich eingestand.
    »Was wissen Sie nicht?«
    »Irgendetwas … ist merkwürdig.« Sie kam sich albern vor, als sie das sagte. Irgendetwas ist merkwürdig. So etwas sagte ein
     vernünftig denkender Mensch nicht und eine Copeland-Beraterin schon gar nicht. Es war unpräzise. Eine Aussage ohne jeden brauchbaren
     Inhalt. Und trotzdem fühlte es sich gut an, es auszusprechen.
    »Denken Sie nach«, sagte Harrisburg. Er verspottete sie nicht, kritisierte sie nicht für die Sinnlosigkeit des Satzes. »Was
     stört sie an den Bildern? Verhält sich irgendjemand nicht so, wie er sollte?«
    Marie schüttelte den Kopf. Das war es nicht. Sie hatte das Gefühl, etwas war falsch, aber sie wusste einfach nicht, was. Keines
     der Bilder hatte Ungewöhnliches gezeigt. Keine Kamera hatte eine Szene festgehalten, die verdächtig gewesen wäre. Und doch
     war die Stimme jetzt, wo Marie ihr mehr Raum gab, umso lauter.
    »Verdammt noch mal, sag mir, was du siehst!«
    Jim Cricket, der zwei Tische entfernt über einen Monitor gebeugt stand, sah auf und warf ihr einen merkwürdigen Blick zu.
     Harrisburg blickte sie verständnislos an. Marie erschrak, als ihr klar wurde, dass sie den Gedanken laut ausgesprochen hatte,
     auf Deutsch.
    »Entschuldigung«, sagte sie auf Englisch. »Ich bin einfach etwas angespannt. Ich glaube, es ist nichts.«
    »Doch«, sagte Harrisburg. »Es ist etwas. Ihr Gefühl sagt Ihnen, dass hier etwas faul ist. Und ihr Gefühl hat recht. Vertrauen
     sie ihm. Denken Sie nach. Sie haben irgendetwas gesehen, das nicht ins Bild passt. Wir alle haben es gesehen, und wir alle
    

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