Der Duft
Henkersmahlzeit?«
Wie auf Kommando teilte sich der Vorhang am Zelteingang, und ein Afrikaner stellte zwei Schüsseln mit einem dampfenden Reisgericht
auf den Tisch. Er verschwand wortlos.
Marie und Rafael sahen sich an. Dann stürzten sie sich mit Heißhunger auf die Mahlzeit. Es gab kein Besteck, also löffelten
sie den klebrigen Reis mit den Händen. Er enthielt Mais, Bohnen und irgendwelches Wurzelgemüse und war sehr scharf gewürzt,
aber Marie schmeckte er vorzüglich, trotz oder vielleicht auch wegen der Umstände.
Nach dem Essen fühlte sie sich besser, aber das Gefühl, dass dies ihre letzte Mahlzeit gewesen sein könnte, blieb.
Rafael legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen. Wir kommen hier schon irgendwie wieder raus.«
Unbewusst schüttelte Marie seine Hand ab. Sie wollte kein Mitleid, und Rafaels blinder Optimismus erschien ihr naiv. Die trügerische
Freiheit, die man ihnen hier ließ, |213| machte nur noch deutlicher, dass keine Hoffnung auf Flucht bestand. Selbst wenn es ihnen irgendwie gelang, an den Wachen vorbei
aus dem Lager zu entkommen, waren sie vermutlich irgendwo mitten in einer Wildnis, in der sie ohne Wasser und Ausrüstung nicht
lange überleben würden. Ein sichereres Gefängnis konnte man sich kaum vorstellen.
Nach etwa einer halben Stunde öffnete sich der Zeltvorhang erneut, und ein hochgewachsener Mann in einem sauberen Tarnanzug
erschien. Er hatte olivbraune Haut und fein geschnittene Gesichtszüge. Seinen Mund mit dem dünnen Oberlippenbart umspielte
ein Lächeln. »Guten Tag«, sagte er auf Deutsch. »Mein Name ist Nariv Ondomar.«
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|214| 24.
»Jedenfalls bist du dumm wie ein Elefant!«, schrie Peko.
Sein Bruder Ollo lachte. »Da sieht man, wie blöd du bist! Elefanten haben einen riesengroßen Kopf. Wie können sie da dumm
sein?«
»Dann bist du eben so dumm wie eine Mücke!«
»Und du, du bist ein kleiner, hässlicher Zwerg! Ein kleiner, hässlicher Zwerg, der mit Puppen spielt wie ein Mädchen!« Ollo
hielt die Figur hoch, die Peko geschnitzt hatte: Ihr Körper war zu lang, die Glieder viel zu kurz, aber er war trotzdem stolz
darauf.
»Das ist keine Puppe, das ist ein Soldat! Ich habe ihn gemacht! Gib ihn sofort her!«
»Ein Soldat? Dass ich nicht lache! Was hat er denn da in der Hand, dein Soldat? Sieht aus wie ein Besen!«
»Das ist ein Maschinengewehr! Gib ihn her, oder …«
Ollo, der Peko um einen ganzen Kopf überragte, lachte hell auf. »Oder was, du hässlicher Zwerg?« Er warf die Soldatenfigur
in den Staub vor der Hütte ihrer Eltern. »Guck mal, was ich mit deiner Mädchenpuppe mache!« Er trat auf die Figur, die mit
einem hörbaren Knacks zerbrach.
»Nein!«, schrie Peko. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er stürzte sich auf seinen Bruder und versuchte, ihm ins Gesicht
zu schlagen, doch Ollo lachte nur. Er versetzte Peko einen kräftigen Stoß, so dass dieser mit dem Po im Sand landete.
»Du spielst nicht nur mit Puppen, du bist auch so schwach wie ein Mädchen!«
Außer sich vor Wut und Verzweiflung wollte Peko sich aufrichten. Die rechte Hand, mit der er sich abstützte, |215| berührte einen länglichen Gegenstand: das Schnitzmesser. Ehe er begriff, was er tat, war er aufgesprungen und hatte sich erneut
auf seinen Bruder gestürzt.
Ollo schrie auf. »Aaaagh! Was … was hast du …« Seine Augen waren weit aufgerissen. Er lachte nicht mehr höhnisch. In seinem
Gesicht war nur noch Angst zu sehen. Das erschreckte Peko so sehr, dass er unwillkürlich zwei Schritte rückwärts machte.
Ollo umfasste seinen linken Oberschenkel. Das Schnitzmesser steckte darin. Ein rotes Rinnsal lief an dem dünnen Bein herab.
»Entschuldige, Ollo, das wollte ich nicht …«
Sein Bruder begann, aus Leibeskräften zu schreien. Er presste beide Hände auf das blutende Bein und humpelte in die Hütte.
Peko starrte ihm nach. Dann wandte er sich um und rannte. Rannte, wie er in seinem achtjährigen Leben noch nie gerannt war,
die Dorfstraße entlang. Die Tränen liefen ihm Wangen und Hals hinab, bevor sie in der heißen Luft verdunsteten.
Er hielt erst an, als der Sandweg eine Biegung um den Hügel machte und er das Dorf nicht mehr sah.
Nur langsam drang das Ungeheuerliche in sein Bewusstsein. Er hatte seinen Bruder getötet! Er war vielleicht noch nicht gleich
tot gewesen, aber wenn man jemandem ein Messer in den Körper rammte, dann starb derjenige, oder? Jedenfalls war das in all
den
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