Der Duft
des Helikopters wirkte trotz seiner ohrenbetäubenden Lautstärke |210| einschläfernd. Marie fiel in einen Dämmerzustand. Ihr war, als säße Will Bittner neben ihr und rede auf sie ein: »Das ist
ja wohl die größte Pleite, die ich je erlebt habe! Was seid ihr eigentlich für Amateure? Glaub mir, ich habe große Hoffnungen
in dich gesetzt, dich immer besonders gefördert. Aber du kennst ja unsere Prinzipien. Total dedication to the client. Total
integrity. Total quality. Es tut mir leid, aber ich kann nichts für dich tun, Marie. Nichts für dich tun, Marie. Nichts. Marie.«
»Marie?«
Sie schlug die Augen auf. Es war nicht Will, der ihren Namen rief. Es war Rafael. »Marie!«
Sie versuchte zu lächeln, doch ihre Lippen waren vertrocknet und ließen sich kaum bewegen. In ihrem Kopf pulsierte es schmerzhaft.
Das Dröhnen der Rotoren wurde leiser und erstarb schließlich ganz. Ihre Bewacher zerrten sie aus dem Hubschrauber.
Marie sah sich um. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, und der Himmel war nur noch im Westen fahlgrau. Zehntausend Sterne
leuchteten durch die Baumkronen, doch sie hatte kaum einen Blick für diese Schönheit. Sie waren irgendwo in einer savannenartigen
Landschaft. Einige große Zelte waren mit Tarnnetzen und Zweigen bedeckt, sodass sie aus der Luft schwer auszumachen sein würden.
Männer in unordentlichen Felduniformen liefen umher und unterhielten sich gedämpft. Einige trugen Maschinenpistolen oder Gewehre.
Es gab keine Lagerfeuer und nur wenige Lampen. Es sah aus, als befänden sie sich in einem Militärlager mitten in einer Kriegszone.
Marie hatte keine Ahnung, wo sie waren. Sie konnten Uganda ohne Weiteres bereits verlassen haben und irgendwo in einem der
Nachbarländer sein. Welche Länder grenzten an Uganda? Ruanda und der Kongo, das wusste sie, weil es im Reiseführer zum Thema
Gorillas gestanden hatte. |211| Aber der Landschaft nach zu urteilen, waren sie vielleicht eher in Kenia. Oder weiter im Norden? Was lag dort noch mal – der
Sudan? Der Tschad? Äthiopien?
Gab es hier vielleicht einen regionalen Konflikt, in den sie hineingezogen worden waren? Sie konnte sich an keine entsprechende
Nachrichtenmeldung erinnern, aber sie wusste, dass in Afrika ständig irgendwo bewaffnete Auseinandersetzungen ausbrachen.
Oft genug waren es Bürgerkriege zwischen verfeindeten Volksstämmen oder zwischen der Regierung und irgendwelchen Rebellen.
Man brachte sie in ein kleines, quadratisches Zelt mit einer Kantenlänge von etwa drei Metern. Zwei Feldbetten und ein niedriger
Klapptisch standen darin, darüber glomm eine Gaslampe. Auf dem Tisch standen Plastikflaschen mit Wasser und zwei Gläser, die
Marie sehnsuchtsvoll anstarrte.
Zu ihrer Überraschung nahmen die Entführer ihnen jetzt sogar die Handschellen ab. »You stay here«, sagte der Araber nur und
ließ sie allein.
Marie dachte nicht lange über diese unerwartete Wendung nach. Sie nahm eine Wasserflasche und trank in tiefen Zügen, ohne
sich damit aufzuhalten, die kostbare Flüssigkeit erst in ein Glas zu füllen. Rafael tat es ihr gleich.
Doch die Freude über das Wasser klang rasch ab. Marie setzte sich neben Rafael auf eines der Feldbetten, auf dem ordentlich
gefaltet eine saubere Decke lag. Ihr ganzer Körper schmerzte.
»Was soll das alles?«, fragte sie. »Warum haben die uns hierher verschleppt? Und warum haben sie uns die Handschellen abgenommen?«
»Ich glaube, sie wollen sich den Anstrich von Zivilisiertheit und Anstand geben. Die sehen sich hier als die ›Guten‹. Wahrscheinlich
wollen sie das Land von irgendeinem Tyrannen befreien, wo immer wir auch sind. Ich bin sicher, sie werden uns nett behandeln,
solange wir hierbleiben und |212| tun, was sie wollen. Aber sie werden uns ohne Zögern erschießen, wenn wir versuchen zu fliehen.«
»Aber wenn es Rebellen sind, wozu brauchen sie uns dann?«
Rafael zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht wollen sie einfach nur internationale Aufmerksamkeit erzeugen.
Vielleicht wollen sie die Bundesregierung zwingen, ihre diplomatischen Beziehungen zu der Regierung dieses Landes abzubrechen,
oder was auch immer. Wir werden es schon noch herausfinden.«
»Vielleicht wollen sie uns tatsächlich vor laufender Kamera erschießen«, sagte Marie. »Vielleicht ist es bei ihnen Brauch,
zu Todgeweihten in den letzten Stunden besonders nett zu sein.«
Rafael lachte trocken. »Wenn das so ist, wo bleibt dann unsere
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