Der Dunkle Code
ein grauhaariger Mann im dunklen Anzug. Ohne sich zu rühren, hatte er das Fotografieren des Gemäldes und den anschließenden Wortwechsel verfolgt. Der Mann war Mitte sechzig, durchtrainiert und sehr gepflegt. Er nahm das ausgedruckte Bild mit seinen langen, schmalen Fingern entgegen und hielt es eine Weile vor sich in die Luft. Dann richtete er den Lichtkegel der Mini-Maglite in seiner linken Hand auf den Ausdruck.
»Das wird genügen«, sagte er mit sanfter Stimme.
6
Aaro rechnete erst gar nicht damit, im Schlafsaal der Jugendherberge einschlafen zu können. Der Mond war aufgegangen und beleuchtete die Ruinen der alten Badeanlage, die Aaro von seinem Etagenbett aus durchs Fenster sehen konnte. In Finnland waren die Leute noch in Saunas aus Torf gegangen, als die Römer schon große Badehäuser aus Stein gebaut hatten, mit flachen Becken und einem exakt geplanten System aus kühlen und warmen Räumen.
Auch um Mitternacht fand Aaro noch keinen Schlaf, obwohl alle am nächsten Morgen zeitig aufstehen mussten, weil es um acht Uhr Frühstück gab. Da in Italien kein anständiges Frühstück gemacht wurde, hatten die Lehrer versprochen, es zusammen mit einigen Schülern selbst zuzubereiten, und Aaro war die fragwürdige Ehre zugekommen, einer der Frühstücksköche zu sein.
Seine Gedanken kehrten immer wieder hartnäckig zu dem Kunstraub zurück. Er hatte einmal ein Kunstraubspiel für Kinder gesehen, das vom Munch-Museum in Oslo auf den Markt gebracht worden war. Es war das Museum, aus dem im Sommer 2004 die weltberühmten Gemälde Der Schrei und Madonna von Edvard Munch gestohlen worden waren. Mit Sicherheit würden solche Diebstähle irgendwann zunehmen, wenn man schon Kinder mithilfe eines Spiels dazu ermunterte.
Aaro schlug die Decke zur Seite. Die Wolkenfetzen vorm Mond hatten sich aufgelöst und der Erdtrabant warf sein geliehenes Licht direkt durchs Fenster. Alle anderen schliefen. Könö schnarchte mit flatterndem Gaumensegel.
Leise kletterte Aaro aus dem Bett, zog sich an und ging zu Jaakkos Bett. Fast lautlos rüttelte er seinen Freund wach.
»Ich will noch nicht aufstehen, Mama …«, sagte Jaacko und versuchte, sich auf die andere Seite zu drehen.
Aaro trat kurz zurück, damit das helle Mondlicht direkt auf Jaakkos Augen fiel.
»Sei leise«, flüsterte Aaro. »Ich bin’s, Aaro, und ich bin nicht deine Mutter. Steh auf, wir müssen was erledigen.«
Jaakko setzte sich in seinem gestreiften Pyjama auf und rieb sich die Augen.
»Wir haben eine Aufgabe«, flüsterte Aaro. »Wir müssen Lauras Digicam holen und uns die Aufnahme irgendwo anschauen. Es ist wichtig.«
Jaakko sah ihn an wie einer, der gerade vom Baum gefallen ist: »Was? Mitten in der Nacht? Wo willst du die denn ansehen?«
»Wir sind in Rom. Hier hören die Leute um die Zeit gerade erst mit dem Abendessen auf. Die Ewige Stadt schläft nie.«
Aaro sah, wie sich Jaakkos Augen weiteten. Die Aussicht auf ein nächtliches Abenteuer in der italienischen Hauptstadt spülte ihm den letzten Schlaf aus den Augen. Im Nu hatte er Jeans, T-Shirt und Kapuzenpulli an und folgte Aaro auf den Gang hinaus.
Um zum Schlafsaal der Mädchen zu gelangen, mussten Aaro und Jaakko am Büro vorbei, durch dessen angelehnte Tür ein fahler Lichtkeil in den dunklen Flur fiel. Aaro ging auf alle viere und spähte vorsichtig durch den Türspalt. Er sah den Empfangsschalter, auf dem eine altmodische Tischlampe mit grünem Schirm brannte. Daneben war die Klingel und hinter dem Schalter sah man die Tür zu einer Kammer. Durch den Türspalt war das Fußende eines Klappbetts zu erkennen. Das Personal schien seinen verdienten Nachtschlaf zu genießen.
Aaro kroch auf allen vieren weiter in den nächsten Gang und wartete auf Jaakko. Der stieß im Dunkeln gegen ihn und im selben Augenblick fing es im Büro an zu piepsen. Es war der Nokia-Klingelton. Eine schläfrige Männerstimme meldete sich, hörte zu und antwortete kurz in unbeholfenem Englisch. Aaro verstand so viel, dass die Jugendherberge voll war. Er kroch weiter bis zum Schlafsaal der Mädchen.
»Schlafen Essi und die Lehrerinnen im selben Saal wie die Mädchen?«, fragte er Jaakko flüsternd. Dessen Atem pfiff leise vor Anspannung.
»Ich glaube, Essi schläft bei den Mädchen und die Lehrerinnen haben ein eigenes Zimmer.«
»Gut. Ältere Leute wachen leichter auf als junge. Und Essi ist ziemlich jung. Jetzt keinen Mucks mehr, ich mache die Tür auf.«
Er hörte, wie Jaakko Atem holte und dann die Luft
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