Der Dunkle Code
Sprengmeister nahm eine Plastiktüte des Schokoladengeschäfts Godiva aus dem Fach. Sie enthielt ein gelblich braunes Kuvert.
Leutnant Bari hörte, wie in der Bahnhofshalle der Roboter in Gang gesetzt wurde. Darauf bellte er ein paar Befehle in sein Funkgerät und trat näher an das Schließfach heran.
»Machen Sie das Kuvert bitte sofort auf«, befahl Bari dem Sprengmeister und winkte dabei den Fotografen der Polizia di Stato heran, damit er Bilder machte. Der italienische Polizeiapparat legte sich bei diesem Kunstraub mit einem Aktionismus ins Zeug, dass der erfahrene Leutnant nur staunen konnte. Würden Wirtschaftsverbrechen in Italien ebenso eifrig untersucht, wäre der Staat um einiges wohlhabender, hatte er zu seiner Frau gesagt, als er am Abend kurz zu Hause vorbeischaute.
Der Sprengmeister zog einen Handschuh aus, öffnete vorsichtig das Kuvert und entnahm ihm den Computerausdruck einer Farbfotografie. Bari nahm das Bild in die Hand, schloss kurz die Augen, weil ihn der Blitz des Polizeifotografen blendete, und sah sich die Aufnahme an. Sie zeigte Caravaggios Grablegung Christi. Die Personen bei dem Leichnam sahen noch leidender aus als sonst, denn jemand hielt ihnen die Klinge eines Leatherman-Messers an die Kehle. Kanzleichef Simonis tauchte nun wieder neben Bari auf.
»Kein Begleitschreiben?«, wunderte sich Simonis.
Der Bombenexperte schüttelte das offene Kuvert. Ein DIN-A4-Blatt segelte heraus. Die Botschaft darauf war mit einer mechanischen Schreibmaschine getippt worden.
Marita Weckman war rot vor Zorn. Sie blickte abwechselnd auf Aaro, der in der Eingangshalle der Jugendherberge auf dem Sofa saß, auf Jaakko, der müde am Empfangsschalter lehnte, auf den verschlafenen Nachtportier und auf die Wanduhr, die zwei Uhr zeigte. Ihre Kollegin Nina Halonen und die Praktikantin Essi Manneria standen todernst hinter Frau Weckman.
»Und das war jetzt die endgültige Erklärung von Herrn Aaro Nortamo?«, fragte die Lehrerin mit frostiger Stimme.
»Jawohl, Frau Weckman. Wir haben ein Verbindungskabel gefunden und fast das Gesicht des Säureattentäters aus dem Museum gesehen. Nur ärgerlich, dass das Bild so undeutlich ist; die Sequenz ist nämlich bloß aus Versehen aufgenommen worden.«
»Ihr habt also mitten in der Nacht, mitten in einer gefährlichen Großstadt Sherlock Holmes und Watson gespielt? Mit der wertvollen Digitalkamera einer Klassenkameradin?«
»Na ja, wenn Sie das unbedingt so formulieren wollen«, sagte Aaro möglichst diplomatisch und kleinlaut. »Wir dachten, wir helfen der Polizei ein bisschen. Und vielleicht ist auch ein Schuss menschlicher Neugier im Spiel gewesen …«
»Menschliche Neugier! Ich sage den beiden Herren jetzt klipp und klar: Sollte sich eine solche Eigenmächtigkeit noch einmal wiederholen, muss ich dem Rektor vorschlagen, euch aus disziplinarischen Gründen für eine bestimmte Zeit von der Schule zu verweisen!«
»Huhu«, seufzte Jaakko halblaut. Frau Weckman marschierte bereits mit klappernden Absätzen zu ihrem Zimmer, ohne sich darum zu scheren, wie viele Schüler sie dabei aufweckte.
Aaro und Jaakko schlichen unauffällig in ihre Betten, aber Aaro konnte lange nicht einschlafen. Gleich als sie die Jugendherberge betreten hatten, waren sie auf die Lehrerinnenpatrouille gestoßen, womit sie allerdings gerechnet hatten. Die Digitalkamera war umgehend wieder in der Tasche der schlafenden Laura verstaut worden, aber damit war der Fall nicht erledigt.
»Üble Angelegenheit«, murmelte Aaro. »Der Stress, den die Weckman gemacht hat, kommt mir viel krasser vor als der Raub im Museum.«
Aus Jaakkos Bett war nur noch Schnarchen zu hören.
Stattdessen fragte Könö einige Betten weiter: »Wo wart ihr? Die Lehrerinnen wollten schon die Bullen rufen.«
»Wir haben uns einen Boxkampf angesehen. Ich kenn da einen Manager«, sagte Aaro, drehte sich um und ließ einen verdutzten Könö zurück.
Was bedeutete Faleria? War es ein Lokal, in dem geheime Treffen stattfanden? Die Erwähnung des grauhaarigen Mannes im Keller klang allerdings nicht nach einem Restaurant. Sollte er am nächsten Morgen im Telefonbuch von Rom nachsehen? Das würde nicht viel nützen, denn in dieser chaotischen Stadt waren bestimmt nicht alle Lokale fein säuberlich in den Gelben Seiten aufgelistet. Das Beste wäre, gleich ins Internet zu gehen.
Kurz bevor er einschlief, beschloss Aaro, der Polizei tatsächlich die Filmaufnahme zu übergeben.
10
Allmählich setzte die Morgendämmerung im
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