Der Dunkle Code
hatte keinen scharfen Verstand, im Gegensatz zu ihm, Dietrich Gruber – und wie es aussah, leider auch im Gegensatz zu dem finnischen Lümmel. Zum ersten Mal fragte sich Dietrich, ob er anstelle eines Muskelprotzes nicht besser einen technisch begabten Denker hätte zum Getreuen machen sollen, einen, der seine eigene Intelligenz ergänzt hätte. Die Rechnung Achim plus begriffliches Denken ergab eine glatte Null.
Aber wo war seine eigene Intelligenz jetzt?, fragte sich Dietrich. Je mehr er nachdachte, umso heikler stellte sich die Lage dar. Auf keinen Fall konnte er die Jungen zum Schweigen bringen. Aber er konnte sie auch nicht ziehen lassen, damit sie der ganzen Welt alles erzählten, womöglich sogar das Geheimnis des Codes!
Nein, diese Gleichung ging nicht auf.
Dietrich setzte sich in einen Sessel. Und fast unmerklich schlich sich eine Lösung in sein Bewusstsein. Die Jungen mussten freigelassen werden, sonst käme die Polizei und alles würde auffliegen. Wie konnte er dafür sorgen, dass die Jungen nichts von dem erzählten, was sie wussten?
Alles in allem gab es genau eine einzige Möglichkeit. Die Entscheidung war also nicht schwer – auch wenn sie nicht angenehm war.
29
Eine knappe Stunde später fiel der bläuliche LED-Lichtkegel aus Grubers Stirnlampe auf die Landkarte, die er auf dem Schoß hatte. Er saß auf dem Beifahrersitz. Achim fuhr im zweiten Gang die kurvenreiche Straße nach Knittelhofen hinauf.
Aaro und Niko hockten auf der Rückbank. Seit einer halben Stunde war im Wagen kein Wort gefallen. Längst hatten sie den Wengsee passiert und die alte Brücke über die Aich überquert. Rechts und links lag die karge Landschaft der nächtlichen Alpen. Direkt vor ihnen erhob sich der Doppelgipfel des Waldkofen.
Allmählich machte sich Aaro ernsthaft Sorgen. Der Deutsche sagte noch immer kein Wort, starrte nur auf die Berghänge, die immer schroffer wurden. Die Stille war so drückend, dass sie jeden Moment explodieren konnte. Hinter den Wolkenfetzen, die der Wind über den Himmel trieb, blitzte der Mond auf. Ab und zu blickte der Deutsche auf die Landkarte und sagte etwas zu seinem Gehilfen am Steuer.
»Ich weiß nicht, ob Sie sich über Ihre Lage im Klaren sind«, sagte Aaro zu Gruber. »Wenn ich morgen nicht meinen Vater anrufe, liest er meine Mail und Sie …«
»Ich bin kein Idiot. Beruhige dich!«
Aaro hörte Gruber etwas auf Deutsch murmeln, was sich anhörte, als würde er ein Gedicht aufsagen. War der Mann verrückt geworden? Das würde gerade noch fehlen.
»Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind, in dürren Blättern säuselt der Wind …« Dietrich sagte sich ein Stück aus Goethes Erlkönig vor. Als er so alt war wie der finnische Junge, hatte er das ganze Gedicht auswendig gekonnt. Was er jetzt vor sich hin murmelte, war die Antwort des Vaters auf die fiebrigen Rufe des Sohnes, als dieser die Lockung des Erlkönigs hört.
Auch Dietrich hörte solche Lockrufe, Einflüsterungen, die ihn aus der schwierigen Situation befreien würden.
Der kleine Finne war anstrengend und konnte einen zur Raserei treiben, aber er hatte etwas an sich, was auch Dietrich in dem Alter gehabt hatte: Grips und Zähigkeit. Aber Dietrichs mathematische Fähigkeiten hatten nicht ausgereicht, um in die Fußspuren seines Vaters zu treten. Er hatte sich mit dem Beruf des Bankangestellten begnügen müssen. Diese Arbeit hatte ihm jedoch von Anfang an nicht geschmeckt, weshalb er ein paar geschickte, einträgliche Unterschlagungen vornahm. Die hatten ihm so viel Geld eingebracht, dass er sich jetzt auf das große Rätsel, das ihm als Erbe zugefallen war, konzentrieren konnte.
Dietrich hatte nicht geheiratet und er hatte keine Kinder. Mit einem Blick auf den blassen, ängstlich wirkenden Jungen fragte er sich, ob er überhaupt fähig gewesen wäre, Kinder großzuziehen.
Wieder drängten Goethes Verse auf seine Lippen und er sah sich selbst als Jüngling in der Schule in Flügenbach, zurückhaltend und selbstbewusst zugleich.
Aaro merkte, dass Gruber ihn lange ansah und sein seltsames Gemurmel fortsetzte, was Aaro nicht gerade beruhigte. Der Deutsche, der da halblaut Gedichte aufsagte, kam ihm immer verrückter vor, so wie einer, bei dem man für nichts garantieren konnte. Schließlich konnte sich Aaro nicht mehr beherrschen und er rief: »Halten Sie an! Sie können nicht …«
»Sei still«, fuhr ihm der Deutsche eher müde als bedrohlich über den Mund. »Wir kennen beide die Lage. Ich kann euch nicht
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