Der dunkle Fluss
Aber das war Jahrhunderte her, nur ein leises Vibrieren im uralten Gestein.
Einmal rutschte ich ab, und das Seil ächzte, als es mein ganzes Gewicht aufnahm. Ich schwang von der Wand weg, und der Abgrund wollte mich hinunterziehen, aber ich gab nicht auf. Drei Meter unten wurde der Gestank überwältigend. Ich zwang michzum Atmen, aber die Luft war wie Brei. Ich richtete die Lampe auf die Leiche, sah verrenkte, dürre Beine und ließ den Lichtstrahl nach oben wandern. Er traf auf die entblößte Wölbung eines Stirnknochens, der von oben ausgesehen hatte wie eine umgestürzte Schüssel. Ich sah die leeren Augenhöhlen, zerfallene Haut und Zähne.
Und da war noch etwas.
Ich schaute genauer hin und sah geschwärzten Jeansstoff und ein einstmals weißes Hemd, das jetzt auberginefarben war von durchgesickerten Verwesungsflüssigkeiten, und beinahe hätte ich mich übergeben, aber nicht wegen der Farben und des Gestanks.
Da waren Maden, Tausende davon. Sie wimmelten unter dem Stoff. Und sie ließen die Vogelscheuche tanzen.
Vier Stunden später, unter einem Himmel voll klarer, süßer Luft, zogen sie Danny Faith aus der Tiefe herauf. Das ging nicht auf angenehme Art. Sie stiegen mit einem Leichensack hinunter und benutzten die Winde an einem der Pick-ups des Sheriffs. Trotz des Motorengeheuls hörte ich das Scharren des Vinylsacks und das entschuldigende Klappern von Knochen an der Felswand.
Drei Leute kletterten hinter der Leiche aus der Spalte: Grantham, Robin und der Gerichtsmediziner. Sie trugen Atemgeräte, und trotzdem sahen sie spröde und grau aus wie verkohltes Papier. Robin vermied es, mir in die Augen zu sehen.
Niemand außer mir war sicher, dass es Danny war, aber er war es. Die Größe stimmte, und das Haar war unverwechselbar. Es war rot und lockig, wie man es in Rowan County nur selten sah.
Der Sheriff ließ sich kurz blicken, als die Leiche noch im Loch lag. Er sprach zehn Minuten lang mit seinen Leuten und dann mit Dolf und meinem Vater. Ich sah die Feindseligkeit zwischen ihnen, das Misstrauen und die Abneigung. Zu mir sagte er nur ein paar Worte, und auch da war der Hass zu spüren: »Ich kann Sie nicht daran hindern, zurückzukommen«, sagte er. »Aber Sie hätten da nicht runtergehen dürfen, Sie dämliches Arschloch.« Gleich danach verschwand er, als habe er die einzige wichtige Aufgabe hier erledigt und noch etwas Besseres zu tun.
Ich merkte, dass ich meine Handflächen an meinen Schenkeln rieb, als könnte ich damit den Geruch des feuchten Felsens und die Erinnerung daran abwischen. Mein Vater beobachtete mich, und ich schob die Hände in die Hosentaschen. Er war anscheinend ebenso verdattert wie ich und rückte jedesmal ein Stück näher heran, wenn Grantham mit einer neuen Frage auf mich zukam. Als Danny den Buckel zum letzten Mal verließ, standen mein Vater und ich keine zwei Schritte mehr voneinander entfernt, und unsere eigenen Nöte wirkten klein neben dem sperrigen Sack, der auf der Ladefläche des Pick-ups nicht flach liegen bleiben wollte.
Aber der Leichnam blieb nicht ewig da. Die Trucks verschwanden, und Stille senkte sich über den Berg. Wir standen in einer Reihe vor der Spalte im Fels, wir drei, und Dolf hielt seine Mütze in der Hand.
Danny Faith war nicht mehr als drei Wochen tot, aber für mich war er auf seltsame Weise wiederauferstanden. Grace war verletzt worden, ja, aber Danny hatte nichts damit zu tun. Ich spürte, wie mein Hass verrauchte. An seiner Stelle erwachte eine bittersüße Erleichterung, stille Reue und nicht wenig Beschämung.
Kann ich dich mit zurücknehmen?«, fragte mein Vater.
Der Wind bewegte sein Haar, als ich ihn anstarrte. Ich liebte Mann, wusste jedoch nicht, wie wir unsere Probleme überwinden sollten. Und schlimmer noch, ich wusste nicht, ob ich noch die Kraft hatte, einen Weg zu suchen. Alles, was wir sagten, hatte seinen Preis. Seine Nase war von meinem Faustschlag geschwollen. •Wozu, Dad? Was gibt es noch zu sagen?«
»Ich will nicht, dass du wieder weggehst.«
Ich sah Dolf an. »Du hast es ihm gesagt?«
»Ich habe keine Lust mehr, darauf zu warten, dass ihr beide erwachsen werdet«, sagte Dolf. »Er muss wissen, wie nah er daranr, dich endgültig zu verlieren. Das Leben ist verdammt kurz.«
»Ich bleibe wegen Grace«, sagte ich zu meinem Vater. »Nicht deinetwegen oder aus irgendeinem anderen Grund. Nur wegen Grace.«
»Lass uns einfach höflich zueinander sein, okay? Lass uns das vereinbaren und dann sehen, was die Zukunft
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