Der dunkle Herzog
Misshandlung. Ich weiß nicht, ob er es mir übelnimmt, dass ich ihm nicht eher geholfen habe, oder ob er mir dankbar ist, dass ich ihn heimgeholt habe – oder ob er überhaupt weiß, dass er zu Hause ist. Curry, Ians Kammerdiener, sagt, er verhält sich hier nicht anders als dort in der Anstalt. Ian isst, zieht sich an und geht schlafen, ohne dass man ihn drängen oder ihm helfen muss, aber es ist, als sei er eine Maschine, der man nie beigebracht hat, sich wie ein Mensch zu bewegen und wie ein Mensch zu leben, ohne das alles wirklich zu verstehen.
Ich versuche, zu ihm durchzudringen, ich versuche es wirklich. Doch es gelingt mir nicht. Ich habe nur die Hülle meines Bruders nach Hause gebracht, und das bringt mich um.
Hart faltete den Brief zusammen und öffnete langsam den letzten. Er datierte auf das Jahr 1874. Hart hatte ihn ungefähr einen Monat vor dem geschrieben, in dem er über Ians Heimkehr berichtet hatte. Die Seiten knisterten leise, die Tinte war tiefschwarz. Hart kannte jedes Wort auswendig, das darin stand.
Meine liebste El,
mein Vater ist tot. Du wirst bereits von seinem Tod erfahren haben, aber den Rest darüber muss ich jemandem gestehen, oder ich werde verrückt. Du bist die Einzige, von der ich denke, ich kann es Dir sagen, die Einzige, der ich vertrauen kann, dass meine Geheimnisse gewahrt bleiben.
Ich werde diesen Brief von meinem vertrauenswürdigsten Boten überbringen lassen, der ihn nur Dir übergeben wird. Ich bitte Dich inständig, ihn zu verbrennen, nachdem Du ihn gelesen hast – das heißt, wenn Deine unerschütterliche Neugier Dich veranlasst hat, einen Brief von dem verhassten Hart zu öffnen, statt ihn gleich ins Feuer zu werden.
Ich habe ihn erschossen, El.
Ich musste es tun. Er war kurz davor, Ian zu töten.
Du hast mich einmal gefragt, warum ich Ian in jener Anstalt lasse, in der die Ärzte ihn vorführen wie einen abgerichteten Hund, oder ihn für ihre seltsamen Experimente benutzen. Ich habe ihn dortgelassen, weil er in der Anstalt trotz allem sicherer war, als er es irgendwo sonst gewesen wäre. Sicher vor meinem Vater. Was immer sie ihm in der Anstalt angetan haben, ist nichts verglichen mit dem, was mein Vater hätte tun können: Ich habe seit Langem gewusst, dass Ian, wäre es mir gelungen, meinen Vater zu überreden, ihn von dort wegzuholen, nur an einen noch schlimmeren Ort gekommen wäre, vielleicht sogar ganz außerhalb meines Einflusses und allein abhängig von der Gnade meines Vaters.
Gott sei Dank sind die Dienstboten Kilmorgans mir gegenüber loyaler als meinem Vater. Unser Majordomus kam eines Tages zu mir, weil eines der Hausmädchen sich ihm anvertraut hatte – es hatte mitangehört, dass mein Vater mit einem Mann darüber geredet hat, er werde ihn dafür bezahlen, in die Irrenanstalt einzudringen und Ian zu töten, und zwar auf eine nicht nachweisbare Art, deren Wahl er dem Mann überließ.
Als mir der Majordomus dieses Entsetzliche berichtete, begriff ich, dass ich nicht länger warten durfte und handeln musste.
Ich war überzeugt von der Wahrheit dessen, was das Hausmädchen mitangehört hatte, denn ich wusste, dass mein Vater zu so etwas fähig war. Es hatte nichts mit Ians Wahnsinn zu tun. Es hatte damit zu tun, dass Ian Zeuge des Verbrechens gewesen war, das mein Vater begangen hat.
Ian hat mir im Laufe der Jahre in Bruchstücken davon erzählt, die ich mir nach und nach zur ganzen Wahrheit zusammengesetzt habe. Ian hat mitangesehen, wie mein Vater meine Mutter getötet hat.
Nach dem zu urteilen, wie Ian das Geschehene beschrieb, glaube ich nicht, dass mein Vater vorhatte, sie zu töten, aber gewiss ist, dass seine Gewalttätigkeit ihren Tod verursacht hat. Er hat meine Mutter gepackt und sie geschüttelt, bis ihr das Genick brach.
Danach hat Vater Ian gefunden, der hinter dem Schreibtisch gekauert hatte, und ihm war sofort klar, dass Ian alles gesehen hatte. Gleich am nächsten Tag wurde Ian nach London gebracht und vor eine Kommission geführt, die seinen Geisteszustand begutachten sollte. Ian war immer etwas seltsam gewesen, aber dieser Kommission gegenüberzusitzen, war zu viel für ihn, und natürlich erklärten sie ihn für geisteskrank. Das hat meinen Vater gerettet – denn da Ian von einer Kommission für verrückt erklärt worden war, würde höchstwahrscheinlich niemand glauben, was Ian über den Tod meiner Mutter erzählt hätte.
Zu der Zeit wusste ich von alldem nichts, aber ich kämpfte gegen die Entscheidung meines Vaters.
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