Der dunkle Highlander
eine sitzende Position ein. Ihr Blick glitt hinüber zu der Steinsäule, aber Dageus war nicht mehr dort. Verzweifelt sah sie sich in dem Raum um. Mehrmals wanderte ihr Blick über das Chaos. Und mehrmals schüttelte sie vehement den Kopf.
Überall war Blut. Pfützen mit Blut. Die Tische und Stühle, die Bücher und Papiere auf dem Boden - alles war mit Blut besudelt. Auch die Steinsäule war voller Blut. Und außer ihr war kein Mensch in diesem Raum - nicht einmal eine Leiche.
Die Zeit ist ein Gefährte, der uns auf einer Reise begleitet.
Sie ermahnt uns zur Wertschätzung von jedem Augenblick,
weil er nie wiederkommen wird.
Nicht das, w as wir hinter uns lassen, sondern
wie wir gelebt haben, ist wichtig.
Jean Luc Picard, Captain der Enterprise
27
Gegenwart
»Ich möchte nicht, dass du abreist«, sagte Gwen wohl zum hundertsten Mal. »Bitte, Chloe, bleib bei uns.«
Chloe schüttelte müde den Kopf. In den vergangenen zwei Wochen waren sie und Gwen sich sehr nahe gekommen. Das war sowohl tröstlich als auch quälend; denn wenn sie Gwen und Drustan zusammen sah, musste sie daran denken, wie unglaublich schön ihr eigenes Leben hätte sein können, wenn die Dinge anders verlaufen wären. Sie zweifelte nicht daran, dass sie und Dageus geheiratet hätten, in Schott l and geblieben wären und sich in der Nähe von Gwen und Drustan ein Haus gekauft hätten. Chloe und Gwen ähnelten sich in vielerlei Hinsicht, und mit der Zeit wäre Gwen ihr die Schwester geworden, die sie niemals gehabt hatte.
Was für ein wunderschöner, glücklicher Traum! Ein Leben in den Highlands, im Schoß ihrer neuen Familie und verheiratet mit dem Mann, den sie liebte.
Aber alles war so verdammt falsch gelaufen. Der Traum würde niemals wahr werden. Und die wachsende Zuneigung zu der klugen, liebevollen Gwen, die ihr seit der grauenvollen Nacht unermüdlich zur Seite stand, schmerzte mehr, als dass sie half.
»Ich bin so lange geblieben, wie ich konnte«, sagte Chloe und wandte sich mit grimmiger Entschlossenheit zum Gate. Sie konnte es kaum noch erwarten, endlich in der Luft zu sein und den schmerzlichen Erinnerungen zu entfliehen. Sie fürchtete, dass sie anfangen würde zu schreien, wenn sie nicht bald von hier wegkam. Sie konnte Drustan nicht einmal mehr ansehen. Und es war unerträglich geworden, sich in dem Schloss aufzuhalten, das Dageus gebaut hatte. Sie hielt es ohne ihn nicht eine Sekunde länger in Schottland aus.
Zwei Wochen waren seit der Schreckensnacht vergangen, in der eine zuschlagende Autotür sie geweckt hatte. Vor vierzehn Tagen war sie Dageus ins Freie nachgelaufen und wurde von den Sektenmitgliedern, die nur auf diese Gelegenheit gewartet hatten, als Geisel genommen.
Vor zwei Wochen war sie schluchzend aus den Katakomben geflohen und aus dem Belthew Building gestolpert, um Gwen und Drustan aus einer Telefonzelle anzurufen. Sie kamen sofort zu ihr nach London, und gemeinsam suchten sie jeden Zentimeter des verdammten Gebäudes ab.
Dann hatten Gwen und Drustan sie zurück ins Kel tar-Schloss gebracht. Zunächst hatte Chloe unter Schock gestanden und war nicht imstande, über die Ereignisse zu sprechen. Sie kauerte in einem verdunkelten Schlafzimmer und war sich nur vage bewusst, dass Gwen und Drustan sich ständig in ihrer Nähe aufhielten. Schließlich war sie bereit, ihnen alles zu erzählen. Von den Dingen zu reden, die sie gesehen hatte. Dann rollte sie sich in ihrem Bett zusammen, ließ die Ereignisse immer und immer wieder vor ihrem geistigen Auge vorüberziehen und versuchte sich zu erklären, was wirklich vorgefallen war. Allmählich wurde ihr bewusst, dass sie die Wahrheit wohl niemals erfahren würden. Nur eines wussten sie ganz sicher: dass Dageus verschwunden war.
Zwei Wochen lang lebte Chloe in einem grauenhaften Schwebezustand. Sie war angespannt, trauerte ... und nährte eine trügerische Hoffnung in sich. Immerhin hatte sie seinen Leichnam nicht gesehen. Also war er vielleicht doch ...
Aber es gab kein Vielleicht. Zwei ganze Wochen warten, beten und hoffen war jede Vernunft.
Und jeden Tag Gwen und Drustan zusammen zu sehen war die Hölle. Wenn Drustan Gwen berührte, dann waren das die Hände von Dageus. Wenn er sein Gesicht zu Gwen neigte, um sie zu küssen, dann war es das Gesicht von Dageus. Wenn er sprach, tat er das mit der tiefen, sinnlichen Stimme von Dageus.
Aber Drustan war nicht Dageus. Er war nicht der, der sie in den Armen halten sollte, auch wenn er aussah wie Dageus.
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